Seligenthaler Gespräche: Wohin geht diese Welt
Vier Impulse und Orgelmusik – Landshut, 25.10.23
Die Vision Gottes für diese Welt
Wohin geht diese Welt? "Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen,“ meinte Antoine de Saint Exupery, „sondern möglich machen." Deshalb stelle ich in meiner ersten Besinnung die Frage: Was sollten Menschen bedenken, die Zukunft im Sinne Gottes ermöglichen wollen?
Auskunft darüber geben die ersten 11 Kapitel des Buches Genesis. Diese Urgeschichten sind mythische Erzählungen. Große Mythen deuten die Welt und die Grundfragen des Menschen, und zwar durch Geschichten, die nie passiert sind und die immer passieren. Die ersten Kapitel der Bibel erzählen von einem Ur-Anfang und gleichzeitig von der Vollendung. Sie erzählen von der Sehnsucht, vom Traum Gottes für diese Welt. Die Spannung zwischen Ideal und faktischer Realität bestimmt diese Geschichtenfolge. Man muss sie als Einheit, als sich gegenseitig bedingenden Erzählkranz deuten.
Das Gedicht in Gen 1, das die Schöpfung als Siebentagewerk Gottes nachzeichnet sagt: Gott hat ein geordnetes Lebenshaus geschaffen und der Mensch, gleichwertig als Mann und Frau nach dem Bild Gottes geschaffen, sollte Sachwalter Gottes und damit für die harmonische Ordnung der Welt verantwortlich sein. Das Ziel alles Geschaffenen ist der siebte Tag, der Tag der Ruhe, der Feier, des Dankes. Er ist Symbol dafür, dass der weltjenseitige Gott in dieser Welt geheimnisvoll gegenwärtig ist.
Der ältere Schöpfungsbericht in Genesis 2 beschreibt in archaischen Bildern eine ähnliche Vision: Die Welt, ein wunderbarer Garten, der Mensch – noch nicht der Mann, sondern Adam, der Erdling – ist von Gott mit einem paradiesischen Garten beschenkt, doch als Einzelwesen fühlt er sich einsam. Gott selbst kommt dieser Sehnsucht zu Hilfe und erschafft ihm die Tiere und schließlich – als Erfüllung seiner Sehnsucht nach Ergänzung – die Frau. Jetzt erst ist Adam „Isch“, der Mann, weil ihm „Ischa“, die Frau, Eva, zur Seite gegeben ist. Die körperlich-seelische Einheit der beiden – in der Sprache der Bibel: „Die Zwei werden ‚ein Fleisch‘“ – ist der Zielpunkt, die Vollendung des gesamten Schöpfungswerkes.
Das ist eine wunderbare Vision: Gott, der die Welt dem Menschen als blühenden Garten übergeben hat, den es zu hegen und zu pflegen gilt, Gott, der in der Liebeseinheit von Mann und Frau den Zielpunkt der Schöpfung gesetzt hat. Der Mensch sollte leben unter den Augen eines gütigen Gottes: in Einklang mit sich, mit dem Mitmenschen und mit allem Geschaffenen. Das wäre eine umfassende ökologische Vision. Ist das nicht ein tiefer Traum, der in jedes Menschenherz hineingelegt ist?
Den Gegenpol zu den ersten beiden Kapiteln bilden die Kapitel 5 bis 10. Es ist die Geschichte der großen, vernichtenden Flut. Diese Flut ist Symbol für das Chaos, in das die Welt versinken kann, wo Gott doch am Anfang das Chaos geordnet und ‚Kosmos’ geschaffen hat. Im 6. Kapitel heißt es lapidar: „Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war…“ Da die Erde voller Gewalt ist, ist sie dem Untergang geweiht, und das wird drastisch geschildert in der Geschichte von der Sintflut. Doch Noach, „ein gerechter, untadeliger Mann“ findet Gnade. Er rettet das Werk Gottes. Mit ihm setzt Gott einen neuen Anfang. Der Regenbogen ist nach überstandener Flut das Zeichen, dass Gott seiner Erde treu bleibt und mit allem Geschaffenen einen Bund schließt.
In den beiden Polen „Paradiesesgarten“ und „Flut“ zeigt sich die labile Balance unserer Erde. Die Botschaft dahinter lautet: Gott verbündet sich mit denen, die inmitten der universalen Schlechtigkeit und Gewalt einen neuen Anfang wagen und das Leben und die Erde retten so wie Noach.
Der Abfall von der ursprünglichen Vision Gottes beginnt schon im Paradies. Die Schlange sät ins Herz der Menschen das Misstrauen gegen Gott. Er hatte ihnen den wunderbaren Garten ganz übergeben, nur vor der geheimnisvollen Mitte allen Lebens, dem Baum des Lebens, sollten sie sich in Ehrfurcht verneigen und darum nicht von dieser geheimnisvollen Frucht essen. Das Geheimnis der Mitte darf keinem menschlichen Zugriff ausgeliefert sein! Man kann es nur dankbar staunend verehren.
Doch die Schlange verdreht die Aussagen Gottes: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Mit der Lüge wird Misstrauen gesät. Es kommt zur Entfremdung gegenüber dem gütigen Gott. Das Verderben der Menschheit nimmt seinen Lauf. Das Paradies geht verloren.
Im vierten Kapitel, in der Geschichte von Kain und Abel, wird grell deutlich, dass die Menschen Brüder sein sollten, doch durch Eifersucht und Hass in den Sog der Gewalt geraten. Gott versucht zwar immer wieder, Kain zum Guten zu bewegen, schützt ihn am Ende gar, jedoch das Verhängnis des Brudermords zeugt sich fort in der Menschheitsgeschichte.
Adam erkennt noch einmal seine Frau. Sie gebiert einen Sohn, Set, übersetzt: „Setzling“. Dieser zarte Setzling hat wieder einen Sohn, Enosch, „Menschlein“ genannt. In dieser Ahnenreihe steht Jesus von Nazareth, der Menschensohn, der inmitten einer gar nicht paradiesischen Welt in seiner Person ein neues, unüberbietbares Zeichen dafür setzt, dass Gott es mit dieser Welt gut meint und sie der Vollendung, dem Paradies der Zukunft, entgegenführen will.
Die letzte der Urgeschichten, die Erzählung vom Turmbau zu Babel, will deutlich machen: Der Versuch des Menschen, eine Einheitskultur, einen Einheitsstaat herzustellen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Gott will die Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Staaten und in all dem soll es menschlich zugehen.
Sie sehen: In alten Geschichten wird uns hier eine die Zeiten überdauernde, zukunftsgerichtete Vision unserer Welt vor Augen gestellt – damit wir unseren Beitrag leisten, die Zukunft Gottes ermöglichen.
Die Friedensvision des Papstes in „Fratelli tutti“ (2020)
Am 4. Februar 2019 erklärten Papst Franziskus und der Großimam Ahmad Al-Tayyib, geistiges Oberhaupt von mehr als einer Milliarde Sunniten, „mit Festigkeit, dass Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern“. Dieser epochale Aufruf von Abu Dhabi ist ein interreligiöses Dokument für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit.
Im Schlussakkord des Rundschreibens „Fratelli tutti“ vom 4. Oktober 2020 bezieht sich der Papst auf diese Erklärung vom Jahr zuvor. Er wendet sich mit seiner Enzyklika „an alle Brüder und Schwestern“, um der Menschheit seine Vision von „Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft“ vorzulegen.
Wahre Religion lebt von der Vision einer universalen Liebe und Barmherzigkeit. Dieser Traum nährt sich aus dem Glauben an den einen Gott, der – nach christlichem Verständnis – Liebe ist und jedem Menschen eine unantastbare Würde verleiht, ob er an Gott glaubt oder nicht.
Wird der Mensch nicht als „Zweck an sich selbst“ (I. Kant) verstanden, breiten sich die modernen Totalitarismen aus, die Papst Franziskus als „Schatten einer abgeschotteten Welt“ im ersten Teil von „Fratelli tutti“ ins Licht rückt: Populismus als nationale Ideologie, gepaart mit „Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens“; ein Wirtschaftsmodell des individuellen Konsumismus, das bestimmte Bevölkerungsgruppen und Weltregionen bevorzugt und einen Großteil der Menschheit ausbeutet. Wenn allein der Profit zählt, werden Grundrechte, wird die Gerechtigkeit geopfert. So geht „der Geschmack an Geschwisterlichkeit verloren“. Stattdessen breiten sich nur „Ablenkung, Verschlossenheit und Einsamkeit“ aus.
Frieden stiften und sichern, ist ein mühsamer Prozess und erfordert geduldigen Einsatz. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass der Wert der globalen Gemeinschaft größer ist als das, was einzelne Gruppen, Schichten, Nationen oder Kulturen wollen. Dahinter steht die Vision der einen Menschheitsfamilie. Der Papst bringt die personale Dimension in die Politik ein.
„Ungleichheit und fehlende ganzheitliche Entwicklung“ von Menschen machen eine Friedensbildung unmöglich. „Ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden.“ Hinter allem steht das Bemühen, das Böse durch das Gute zu überwinden, wie es Paulus im Römerbrief ausdrückt (Röm 12,21). Wut und Rachegedanken machen die eigene Seele krank und führen zu einer endlosen Kette von Rachefeldzügen.
Dabei heißt Frieden schaffen gerade nicht, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Frieden und Versöhnung werden „im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst“. Auch hier gilt das Grundprinzip: „Die Einheit steht über dem Konflikt.“ Krieg ist nach der Wahrnehmung des Papstes „kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zur ständigen Bedrohung geworden“. „In unserer Welt gibt es nicht mehr nur ‚Stücke‘ von Krieg in dem ein oder anderen Land, sondern einen ‚Weltkrieg‘ in Stücken, weil die Schicksale der Nationen auf der Weltbühne zutiefst miteinander verflochten sind.“
Angeblich humanitäre, defensive oder präventive Vorwände, begleitet von manipulativer Information, provozieren heute kriegerisches Eingreifen. Franziskus verschärft die Aussagen des Katechismus der Katholischen Kirche, der unter strengen Bedingungen die Möglichkeit einer legitimen Verteidigung mit militärischer Gewalt für vertretbar hielt. Er legt den Finger auf eine „allzu weite Auslegung dieses möglichen Rechts“ und verweist darauf, dass die „Schäden und Wirren“ infolge kriegerischer Handlungen oft „schlimmer sind als das zu beseitigende Übel“.
Der „springende Punkt‘“ ist: „Durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und den enormen wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien“ gerate der Krieg außer Kontrolle und treffe viele unschuldige Zivilisten. Deshalb könne man heute nicht mehr von einem ‚“gerechten Krieg“ sprechen. Krieg ist keine Lösung mehr, sondern „Versagen der Politik und der Menschheit“.
Für Franziskus dürfen Frieden und Solidarität „nicht auf ein falsches Gefühl der Sicherheit gegründet sein, auf die Androhung gegenseitiger Zerstörung oder totaler Auslöschung“. Er fordert die Abschaffung von Atomwaffen und den Aufbau von Strukturen des Vertrauens. Freiwerdende Mittel sollten der Bekämpfung des Hungers dienen. Der Papst setzt auf die Vereinten Nationen, doch vor allem auf das Friedenspotential der Religionen.
„Fratelli tutti“, ein Schreiben, das über die Voraussetzungen und die Ziele einer Friedensordnung nachdenkt, eine visionäre Realutopie für die Eine Welt von heute.
Neuer Totalitarismus
Leo J. O’Donovan, Jesuit und ehemaliger Präsident der Georgetown-Universität in Washington, hat im November 2000 bei einer Rede in Berlin eine neue Totalitarismusthese aufgestellt: „Nach dem Ende der obskuranten Totalitarismen der NS-Ideologie, mancher religiösen Fundamentalismen und nach dem Scheitern einer totalitären planwirtschaftlichen Ideologie steuern wir auf einen universalen Funktionalismus zu, von dem wir befürchten müssen, dass er auf neuartige, vielleicht subjektlose Weise totalitär wird.“
Der neue Totalitarismus ist gesichts- und subjektlos. Funktionales Denken erobert seit der Jahrtausendwende in galoppierender Geschwindigkeit alle Lebensbereiche. In rasanter Beschleunigung ist kein Lebensbereich mehr der Machbarkeit entzogen. Der rein funktionale Ökonomismus wurde schon 1981 von Jürgen Habermas als „Kolonisierung der Lebenswelt“ diagnostiziert. Das funktionalistische Nutzenkalkül eroberte den Sport, die Kunst, das Reisen bis hinein in die Welt des Privaten: Alles wird an der Frage ‚Was bringt mir das?‘ gemessen. „Wenn schlechterdings alles funktionalisierbar ist, kann auch alles vom schwarzen Loch des Totalitarismus aufgesogen werden“ (E. Nordhofen). In diesem schwarzen Loch könnten die Würde der menschlichen Person, wenn nicht gar die ganze Schöpfung untergehen.
Die Frage nach einem archimedischen Punkt außerhalb des Funktionalismus ist so aktuell wie noch nie. Der Blick auf die Ursprünge des biblischen Glaubens kann uns helfen, die revolutionäre, anarchische Kraft des Monotheismus neu entdecken. Denn der von den großen Propheten Israels proklamierte Monotheismus erwuchs aus einer Kritik der funktionalen Götter, mit denen man ein Tauschgeschäft einging, um sie für den eigenen Nutzen und Vorteil oder zur Stabilisierung von Macht und Herrschaft zu gebrauchen.
Alle explizit religiösen Vollzüge, die Stille, die Meditation, die Feier, das Fest – sind eine Aktualisierung, ein Üben und Einschwingen ins Transfunktionale, ins Zweckfreie. Die biblische Grundgeschichte der Freiheit, gedeutet für heute, Rituale, die unsere Gegenwart mit dieser biblischen Grundgeschichte verbinden, wären neben Altbewährtem neu zu entdecken. Daraus müsste ein Ethos erwachsen, das sich dem Wohl aller Menschen und dem Erhalt der Schöpfung verpflichtet fühlt.
Heute hat die Stunde geschlagen, um den Glauben an den einen Gott neu zu beleben! Nur wenn wir den Himmel offenhalten, bleiben wir der Erde und der Würde des Menschen treu!
Das offene Fenster
Daniel lebt in Babylon. Und Babylon steht für ein in sich geschlossenes, totalitäres System. "Jeder, der an irgendeinen Gott oder Menschen außer an dich, König, eine Bitte richtet, der soll in die Löwengrube geworfen werden" (Dan 6,8). Vor dem König haben alle in die Knie zu gehen. Daniel tut’s nicht. Da „ging er in sein Haus. In seinem Obergemach waren die Fenster nach Jerusalem hin offen. Dort kniete er dreimal am Tag nieder und richtete sein Gebet und seinen Lobpreis an seinen Gott.“ (Dan 6,11)
Heute wird vieles "angebetet": Fortschritt, neue Technologien, Macht, Leistung, Geld, Erfolg, körperliche Schönheit, Gesundheit. In all dem spiegeln wir uns selbst. Unsere Welt hat keine Fenster mehr. Wohin wir schauen, durch das Mikroskop oder durch das Fernrohr, auf den Bildschirm oder in die Bilanzen - wir begegnen schließlich nur noch uns selbst und dabei letztlich unserer tiefsitzenden Angst hinter allem. Wir sitzen wie in einem riesigen, aber geschlossenen Spiegelsaal, ohne ein Fenster zur Ewigkeit; wir spiegeln uns selbst. Aber was geschieht, wenn wir uns nur mit uns selbst begnügen und mit den Dingen der Welt? Wer nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht, der landet sehr schnell dort, wohin er gar nicht wollte.
Wir sollten als Christen das Fenster zur Ewigkeit offenhalten. Das geht nur durch echte Begegnungen – mit Menschen und mit Gott. Stille und Gebet sind die Basis von erfülltem Leben. Das Gebet ist der Atem des Glaubens. Oft genug sind wir außer Atem. Wenn wir nicht mehr wissen, was uns atmen lässt, wenn wir das entscheidende Fenster zu Gott nicht mehr offenhalten, dann Glaube, gute Nacht! Daniel hatte das Niederknien und Beten eingeübt in guten Tagen. Nun, im Ernstfall des Lebens angesichts der tödlichen Bedrohung, findet er darin Halt und Gelassenheit, was auch den König überzeugte.
Mein Wunsch für uns alle fasst ein kurzes Gebet zusammen: "Gib, o Gott, dass wir dich mit ungeteiltem Herzen anbeten und die Menschen lieben, wie du sie liebst."