„Wege aus der Kirchenkrise“
Vortrag in Mindelheim
Einleitung
„Wege aus der Kirchenkrise“ – so unser heutiges Thema. Man könnte hinter diesen Titel ein Ausrufezeichen setzen und dadurch signalisieren: Ich weiß und zeige Euch die Wege, die aus der Krise herausführen! Man könnte den Titel auch mit einem Fragezeichen versehen und damit andeuten: Ich weiß nicht so recht, wie man auf die Krise antworten soll. Ich möchte weder im Nebel der Ratlosigkeit bleiben, noch im Brustton der Überzeugung Rezepte vorlegen, wie man schnellstmöglich die Krise bewältigt. Die schnellen Lösungen greifen meistens zu kurz, Nichtstun jedoch führt oft noch tiefer in die Krise.
Deshalb möchte ich Sie anregen, zunächst sehr grundlegend über das Wesen der Kirche nachzudenken, um ihren Ort und ihre Aufgabe besser erfassen zu können. Mit dem tieferen Einblick in das, was Kirche ist und sein soll, können wir die Zeichen unserer Zeit in den Blick nehmen, um mögliche Wege oder auch Trampelpfade in die Zukunft zu finden.
Wir sollten uns bewusst sein: Krisen, kleine und große, bei denen es um Sein oder Nichtsein ging, gab es für die Kirche im Laufe der Geschichte. immer wieder Das griechische Wort „Krisis“ bedeutet „Scheidung“, „Unterscheidung“ bis hin zu „Entscheidung“. Krisen konfrontieren uns mit der Aufgabe herauszufinden, was bleibend und zukunftsfähig und was zeitbedingt und überholungsbedürftig ist. Es gilt zu hören, was der Geist heute den Kirchen zu sagen hat. Wir sollten uns dabei von dem untergründigen Angst- und Besorgniston freimachen, der oft in dem Wort „Krise“ mitschwingt, und schlicht sagen: Die Kirche befindet sich heute in einem epochalen Wandlungsprozess – und den gilt es wahrzunehmen, um daraus Konzepte für die Zukunft zu entwickeln.
Kirche als Weggemeinschaft
Die Kirche ist eine historisch gewachsene Größe. Sie existiert bis heute aus der kreativen Inspiration und Kraft ihres Ursprungs. Die erste Bezeichnung für die aus Juden und Heiden sich formierende Glaubensgemeinschaft um den Messias Jesus war „der Weg“ (Apg 9,2; 19,9.23; 22,4 u.a.). Das Christentum ist von Anfang an eine Gemeinschaft auf dem Weg. Diese Grundgestalt hat ihren bleibenden Ursprung im Exodus, dem Wüstenzug des Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten ins gelobte Land der Freiheit. Das Ziel des Exodus war zunächst der Sinai, wo Gott sich dem Mose und dem ganzen Volk offenbarte und einen Bund schloss. Trotz vieler Rückfälle, trotz mangelnden Mutes und verratener Freiheit vonseiten des Volkes: Gott blieb seinem Bund treu! – Das Zweite Vatikanische Konzil hat dieses grundlegende Verständnis von Kirche als pilgerndes Gottesvolk neu ins Bewusstsein gehoben. Damit hatte sich die Katholische Kirche, die sich ab dem 19. Jahrhundert als Bollwerk gegen die Moderne verstand, geöffnet und sich dem Prozess der Moderne – leider viel zu spät – gestellt. „Kirche“, ein Lehnwort aus dem Griechischen, bedeutet: „die dem Herrn Gehörende“. Sie geht im engeren Sinn auf die Nachfolgegemeinschaft um Jesus von Nazareth zurück. „Weg“ ist die umfassende Metapher, nach der Markus, der erste Evangelist, seine Jesusgeschichte ordnet und aufbaut. Seinem Grundmuster folgen Matthäus und Lukas. Bei Johannes wird die Wegmetapher personalisiert und spiritualisiert. Jesus selbst ist „der Weg“ (vgl. Joh 14,6).
In ihm, dem Gesalbten Gottes, sehen die Evangelisten und ihre Gemeinden die Erfüllung der jüdischen Heilsgeschichte. Jesus wollte in der zerklüfteten Gesellschaft seines von der Weltmacht Rom besetzten Heimatlandes eine innerjüdische Erneuerungs- und Einheitsbewegung initiieren, die dann ausstrahlen sollte auf die ganze Welt. Verwandlung der Welt hin zur Welt Gottes, das war sein Herzensanliegen. Ganz im Sinne seiner Glaubenstradition wollte Jesus den Exodus und den Bund Gottes mit seinem Volk erneuern und weiterführen. Damit ist er jedoch – menschlich gesprochen – gescheitert.
Aus diesem bleibenden, durch die Geschichte mitlaufenden Ursprung lebt die Kirche. Halten wir fürs erste diesen grundlegenden Zug fest: Das Christentum war am Anfang „der Weg“, ein Weg zu erfülltem Leben, ein Weg, der mehr und mehr den Menschen die Wahrheit ihres Lebens und die Wahrheit Gottes eröffnen sollte. Als Christen müssen wir immer neu diesen Weg suchen und auf dem Weg bleiben. Die Kirche als Gemeinschaft von Pilgern ist ein lebendiger Organismus. Das bedeutet, immer offen zu sein, sich zu wandeln und sich zu entwickeln, und zwar als Gemeinschaft. Das griechische Wort „Synhodos“ heißt „gemeinsamer Weg“ und bedeutet: ständige Offenheit für den Geist Gottes, durch den der lebendige Christus in seiner Kirche lebt und wirkt.
Die Mission der Kirche
Nachdem wir die grundlegende Gestalt der Kirche bedacht haben, möchte ich jetzt der Frage nachgehen: Was ist der Auftrag der Kirche, was ist ihre Mission? Werfen wir dazu einen Blick auf die einzige Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngern, die uns Matthäus am Ende seines Evangeliums erzählt (Mt 28,16-20): Auf einem Berg in Galiläa versammelt er die Seinen und sendet sie aus mit den Worten: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
Die mehrmaligen „All“-Aussagen fallen auf. Bei diesem universalen Anspruch liegt die Folgerung auf der Hand: Die Wahrheit Jesu müsste zu allen Zeiten allen Menschen intuitiv zugänglich sein. Bezeichnend an dieser Stelle ist, dass Matthäus von einigen Jüngern vermerkt, dass sie „Zweifel hatten“ (Mt 28, 17). Halten wir diesen doppelten Ausgangspunkt fest: Das Innerste der Botschaft Jesu müsste für jeden Menschen einsichtig und plausibel sein. Es ist „ins Herz geschrieben“. Seine zentrale Botschaft ruht in der verborgenen Tiefe jedes Menschen und diese Tiefendimension sollte durch die ausgesandten Jüngerinnen und Jünger zum Leben erweckt werden, indem sie Zeugnis geben vom lebendigen Christus. Dieses Zeugnis erwächst immer aus dem gläubigen Suchen, dem Dialog mit „der Welt“ und bedeutet: Hinterfragen dessen, was man bisher zweifelsfrei annahm. Der produktive Zweifel gehört zum Glauben, er ist der „Bruder des Glaubens“ (Halik), welcher uns durch Christus immer überraschend neu – durch alle Anfragen hindurch – geschenkt wird!
Das Zentrum des Christentums ist Christus, der auferstandene Jesus, dessen Mitte seine intime Du-auf-Du-Beziehung mit Gott, seinem „Abba“, war. Kirche ist somit jene Weggemeinschaft, die unter dem bleibenden Beistand des Auferstandenen nach Gott fragt und sucht, ohne ihn als festen Wahrheitsbesitz zu beanspruchen. Leitstern der dem Herrn gehörenden Kirche ist jener geheimnisvoll-verborgene Gott, von dem es lapidar im Johannesprolog heißt: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1,18; vgl. auch 1 Joh 4,16). Gott bleibt auch nach seiner Offenbarung in Christus Geheimnis. Doch von diesem Gott wird gleichzeitig auch gesagt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,12).
Auch der „Urheber und Vollender des Glaubens“ (vgl. Hebr 12,2) ist von keinem Buch oder keinem Titel zu fassen (vgl. Joh 21,25). Die pilgernde Gemeinschaft der Kirche muss sich also immer wieder auf das Abenteuer einlassen, den unfassbaren Christus zu suchen – und das in Verbindung mit den Suchenden aller Couleur, den religiösen und nichtreligiösen. Diese missionarische Suchbewegung gehört zum Wesen der Kirche. Aufgabe der Kirche ist es demnach, die Sehnsucht nach Lebenserfüllung, nach Tiefe, nach Gott wachzuhalten – in lebendiger Verbindung mit dem Auferstandenen, der selbst zu Lebzeiten meinte: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk 9,40). Wir müssen die engen, begrifflich festgelegten Grenzen der institutionellen Kirche geistig weiten, so sehr verfasste Formen für jede Institution nötig und sinnvoll sind. Eigentlich sollte die Kirche überhaupt keine festen inneren Grenzen haben! Nach Thomas von Aquin ist die ganze Welt „ecclesia in potentia“.
Um diese missionarische Begeisterung, Offenheit und Demut geht es heute! Mission in der heutigen Welt kann nicht bedeuten, unsere weitgehend agnostischen Zeitgenossen in die Strukturen der gegenwärtigen Kirche zu drängen oder Gläubige anderer Religionen zur Konversion zu bewegen. Im Gegenteil! Wir sollten die starren Grenzen der Kirche in einem gemeinsamen dialogischen Prozess erweitern und damit unser Kirchenverständnis bereichern! Das Christentum hat großen Schaden erlitten und furchtbares Leid verursacht, weil es sich zu einseitig auf die rechte Lehre konzentrierte. Nur als universale Suche nach der rechten Lebenslehre hat es eine Zukunft!
Auferstehung als Initialzündung der Kirche
Die Kirche entstand aus dem absoluten Nullpunkt der anfänglichen Jesusbewegung. Mit dem Kreuzestod war der Traum vom messianischen Reich ausgeträumt. Das Projekt Jesu schien gescheitert und mit ihm begraben. Aus den völlig unerwarteten Erscheinungen des Auferstandenen entstand eine neue Sammlungsbewegung unter seinen Anhängern. Mit dem Glauben an die Erhöhung des Gekreuzigten bekam die Jesusgeschichte den entscheidenden Durchbruch und Schub. Vor allem in den hellenistischen Städten des Ostens, dann ausgreifend auf den ganzen Mittelmeerraum, wuchsen Gemeinden aus Juden und Heiden. Der Vielgötterglaube der Antike wich allmählich dem attraktiveren jüdischen Monotheismus in christologischer Ausprägung. Es kam aber auch zum Riss mit dem rabbinischen Judentum, das sich nach dem Jüdischen Krieg ab dem Jahre 70 entwickelte. Für das Judentum war damals wie heute die Tora samt ihrer Auslegung das Zentrum. Für die sich bildende Kirche war es der Messias Jesus. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten hat man theologisch darum gerungen, wie das Geheimnis der Person Jesu in der Sprache der griechischen Philosophie ausgesagt und gewahrt werden könne. Die Suche nach dem unfassbar-verborgenen Christus ist bis heute die vornehmste Aufgabe der Christenheit. Denn sie bekennt ihn als das Urbild des Menschen und als „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15).
Blenden wir an dieser Stelle zurück zur Geschichte Israels. Dieses Volk bekannte sich über Jahrhunderte zu dem einen, bildlosen Gott und respektierte dabei die Götter der anderen Völker (Henotheismus). Erst in der Katastrophe des Babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v.Chr. wurde aus der tiefsten Krise ein erneuerter, geweiteter Glaube an den einen Gott des Himmels und der Erde geboren (Monotheismus). Ähnliches geschah bei der Jesusbewegung. Aus dem Zusammenbruch aller vorgefassten Hoffnungen entstand durch die Initiative Gottes trotz des Kreuzestodes Jesu etwas unerwartet Neues, Umwerfendes, Universales: der Glaube an die Auferstehung, an den Einbruch des Ewigen, an die Erhöhung und bleibende Gegenwart des gekreuzigten Messias.Vielleicht „muss“ sich die Kirchenkrise in unseren Breiten noch einmal verschlimmern, bis eine neue Kirchengestalt entstehen kann. Man bedenke, dass sogar die ersten Zeuginnen und Zeugen den Auferstandenen zunächst gar nicht erkannt hatten. Analog muss es vielleicht auch mit der Neugeburt der Kirche aus der Kraft Gottes geschehen.
Das Mitsein Gottes und des Erhöhten, das Wirken des Geistes, der das ganze All erfüllt, ist im Glauben die bewegende Mitte der Kirche! Daher wird und muss die Geschichte der Kirche ein kontinuierliches Auf und Ab bleiben. Wichtig ist dabei, dass sich die christliche Wahrheit in die jeweilige Kultur hineingibt und sie von innen her verwandelt. Das Christentum hat sich jedoch immer mehr als ausgefeilte Lehre entwickelt, ausgedrückt in philosophischer Begrifflichkeit – über Jahrhunderte noch dazu mit römischem Rechtsdenken und staatlicher Macht und Ideologie verquickt. Der christliche Glaube müsste sich auf seine Anfänge besinnen und sich erneut als Weg einer universalen Lebenslehre verstehen, die in der Vielfalt aller Kulturen beheimatet sein sollte. Die Kluft zwischen der Kirche und der modernen Kultur ist, wie schon Paul VI. in seinem Lehrschreiben „Evangelii nuntiandi“ (1975) feststellte, das große Problem der westlichen Kirche.
Vieles in unserer jetzigen kirchlichen Kultur und Sprache stammt noch aus der agrarisch geprägten Welt und aus einer pyramidalen Gesellschaft, in der verschiedene Religionen und Konfessionen getrennt voneinander lebten, ihre je eigene Sozialgestalt ausformten und sich voneinander abschotteten. Mit diesen geschlossenen Systemen ist es in unserer globalen Welt und in unserer industrialisierten, hochtechnisierten, allseits vernetzten und vielräumigen Gesellschaft vorbei.
In diese komplexe Welt hinein müsste sich das Christentum neu inkulturieren. Als ‚global player‘ mit weltweiter lokaler und zentraler Struktur hätte die Katholische Kirche eine große Chance. Zweifellos müsste dazu noch manches aus der überkommenen Kirchenstruktur absterben, damit Neues entstehen kann. Vielen „Menschenfischern“ von heute geht es wie den Jüngern bei der Begegnung mit dem nicht erkannten Auferstandenen am Ufer des Sees Genezareth. Sie haben sich die ganze Nacht abgemüht und nichts gefangen (vgl. Joh 21,1-6). In unseren Breiten leeren sich die Kirchen, die Mitglieder sind überaltert, Klöster müssen schließen und der Priesternachwuchs schrumpft bedenklich. Doch der Auferstandene sagt heute, was er auch damals ans Herz legte: Fahrt hinaus in die Tiefe und versucht es noch einmal! Ein neuer Versuch bedeutet aber nicht, das Alte noch einmal nostalgisch aufleben zu lassen, sondern es braucht den Mut und die Ausdauer, gewohntes Wasser zu verlassen und in die tiefere Dimension unser heutigen Welt einzutauchen. „Der Glaube ist eine mutige Reise in die Tiefe, eine Reise der Transformation der Kirche und der Welt, eine gemeinsame Reise der Synodalität“ (Tomáš Halík). Der lebendige Christus will auch heute durch die verschlossenen Türen der Angst kommen. Er kommt über die innere Stimme des Herzens, wenn wir uns nicht von der heutigen Erregungskultur und Kurzatmigkeit oder von Angst und Ratlosigkeit vereinnahmen lassen.
Das Geheimnis der Kirche
Bei all dem heißt es zu glauben, dass die Kirche ein Geheimnis, ein Sakrament, ein Zeichen ist – ein Zeichen der Einheit der ganzen Menschheit in Christus. „Aufgabe der Kirche ist es, die Sehnsucht nach diesem Ziel in den Herzen der Menschen stets präsent zu halten und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, irgendeine Form der Kirche, irgendeinen Zustand der Gesellschaft, irgendeinen Stand der religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Erkenntnis als endgültig und vollkommen anzusehen. Wir müssen immer wieder die konkrete Form der Kirche in der Geschichte von ihrer eschatologischen Form unterscheiden, das heißt, wir müssen die Kirche auf dem Weg, die kämpfende Kirche (ecclesia militans), von der siegreichen Kirche im Himmel (ecclesia triumphans) unterscheiden“ (Tomáš Halík).
Leider hat die Kirche auf dem Weg oft sich selbst zu wichtig genommen und fast an die Stelle Gottes gesetzt. Ketzerverbrennungen nach innen, Ausbreitung des Christentums nach den zum Teil brutalen und überheblichen Mechanismen des europäischen Imperialismus sind krasse Verfehlungen des kirchlichen Auftrags. Auch die Skandale um den Missbrauch auf verschiedenen Ebenen, die in früheren Jahren ohne Sensibilität für die Opfer sträflich bagatellisiert wurden und auf keinen Fall ans Licht kommen durften, sind erschreckende Anzeichen dafür, dass der Amtskirche eine überhöhte, makellose Fassade wichtiger war als ihr wahrer Auftrag. Heute sind eine neue Demut und eine Neuevangelisierung im Geist des Dialogs und der Gewissensfreiheit angesagt!
Die Katholische Kirche hat im letzten Konzil dem modernen Menschen eine Art eheliches Treueversprechen gegeben und damit ihre Abwehrkämpfe gegen die Moderne seit der Aufklärung hinter sich gelassen. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ stellt in ihrem ersten Satz programmatisch fest: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ Jedoch ist die Kirche in den letzten Jahrzehnten als ewig gestriger Verein auf wenig Gegenliebe gestoßen, zumal fundamentale Entwicklungen wie der Prozess der Demokratisierung oder der Gleichstellung der Frauen immer wieder abgewehrt werden; von einer humanen Neubewertung der Sexualität und der Beachtung von Menschenrechten auch nach innen ganz zu schweigen. Das Drama des synodalen Weges spricht Bände!
Zwei Wochen vor seinem Tod gab der Mailänder Kardinal Carlo Martini ein Interview, in dem er auf die Frage „Womit ringen Sie persönlich“ antwortete: „Die Kirche ist 200 Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist, der Glaube, das Vertrauen, der Mut.“ Ein prophetisches Wort eines großen Wissenschaftlers, Kirchenmannes und Jesuiten!
In den Augen der Öffentlichkeit und der Medien erscheint die Kirche inzwischen als ewig gestriger Skandalverein. Keine Frage, die Kirche hat sich in letzter Zeit und im Laufe der Geschichte oft schlimm diskreditiert. Doch das ist die Außenseite, und die Krankheitserreger sind weit ins Innere des Kirchenkörpers eingedrungen. Das wahre Innen der Kirche ist jedoch nach Paulus jener „Schatz, den wir in zerbrechlichen Gefäßen“ tragen (vgl. 2 Kor 4,7). Die Kirche ist mehr als die Summe ihrer Fehler und Skandale! Sie hütet einen Schatz, den Schatz der Erkenntnis Christi. Vielleicht muss heute das ganze Herz-Kreislaufsystem der Kirche neu zum Leben erweckt und nicht nur einzelne Organe operiert oder erneuert werden.
Es heißt, die Welt und die Kirche mit den Augen des Glaubens zu sehen und zu transformieren. Dabei erkennen wir nicht nur den fortlaufenden Prozess der Schöpfung (creatio continua), sondern in der Geschichte auch den weiterlaufenden Prozess der Inkarnation (incarnatio continua), der Sehnsucht nach wahrem Menschsein und umfassender Gerechtigkeit, sowie den andauernden Prozess des Leidens, Sterbens und der Auferstehung (passio continua). Wir glauben und bekennen, dass die Kirche ein wirksames Instrument und Zeichen für den Einigungsprozess der Menschheit ist. Ein Satz aus dem geistlichen Testament von Johannes XXIII. gibt mir immer wieder zu denken: „Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen es besser zu verstehen.“ Die Chancen und die Gefahren unserer globalen Welt könnten einen neuen Exodus einleiten, um den universalen Christus immer mehr zu suchen und zu finden.
Künftige Gestalt von Kirche
Kirche ist nur Kirche, wenn sie „dem Herrn gehört“, d.h. wenn sie Zeugnis gibt vom lebendigen Christus, indem sie dem Glauben dient, Hoffnung weckt und Liebe an alle weiterschenkt. Welche Konzepte, die sich heute schon abzeichnen, könnten zukunftsfähig sein? Ich möchte drei dieser ekklesiologischen Konzepte nennen und näher auf sie eingehen, zum Teil angelehnt an Tomáš Halíks empfehlenswertes Buch „Der Nachmittag des Christentums“ (2022, S. 251-267).
Die Grundgestalt der Kirche für die Zukunft wurde schon mehrfach genannt: Sie ist und bleibt das pilgernde Gottesvolk, das durch die Geschichte wandert. Das ist das unveräußerliche Erbe Israels. Der Glaube des Juden Jesus ist der Ursprung der Kirche. So wie in der Person Jesu gemäß dem Konzil von Chalcedon (451 n.Chr.) das Göttliche und das Menschliche „unvermischt und ungetrennt“ eine Einheit bilden, so bildet die Christenheit mit dem weiterbestehenden Judentum „unvermischt und ungetrennt“ eine Einheit. Ähnliches gilt auch für das Verhältnis des traditionellen Christentums zu seinem „ungewollten Kind“, dem modernen Säkularismus. Vergessen wir nie, die Menschenrechte wurden gegen den Widerstand der Kirche erkämpft, obwohl sie urbiblisches Erbe sind! Nur in der Weite und Offenheit einer weltweiten Lerngemeinschaft mit allen Religionen und weltanschaulichen Strömungen wird es Kirche in Zukunft geben! Diese universale Ökumene soll unsere Identität als Christen und Katholiken nicht verwischen, sondern profilieren – im Sinne einer wahren Katholizität: Je mehr wir das Universale betonen, umso mehr müssen wir unsere eigenen Wurzeln tief in die Erde treiben! Ich schätze das Katholische, weil es vom Grundansatz her „all-umfassend“ und damit integrativ angelegt ist. Deshalb sollte die Kirche nicht integralistisch vereinnahmen, sondern universelle Ausstrahlung besitzen – im Geiste des Dialogs und der Gewissensfreiheit!
Dabei ist die Kirche immer auf dem Weg, nie am Ziel. Sie bleibt „ecclesia semper reformanda“. Wenn unser Nachdenken über die Kirche und unseren Glauben den offenen, pilgerschaftlichen Charakter verlieren würde, dann degenerierten wir zu einer Sekte oder einer Ideologie. Ein solch verengter konfessioneller Katholizismus hat keine Zukunft! Die wesentlichen Eigenschaften der Kirche – die Einheit, die Heiligkeit, die Katholizität und Apostolizität – werden auf ihrem Pilgerzug durch die Geschichte nie ganz verwirklicht werden können. Sie sind zwar in Ansätzen erfahrbar, aber sie bleiben immer in der Spannung zwischen „Schon“ und „Noch-nicht“. Kirche in vollkommener Gestalt ist ein Leitstern der Hoffnung, nie fester Besitz. Der Glaube an die wahre Gestalt der Kirche ermutigt uns zu Gebet und Arbeit, um uns selbst, unsere Beziehungen und die uns umgebende Welt Gott entgegenzuführen. Wir führen die Sendung Jesu weiter: in unserer Welt die Welt Gottes aufleben zu lassen – in aller Demut und Sanftmut, aber auch mit Hochherzigkeit und Tatkraft und nicht zuletzt in Gelassenheit und Humor. Alles beginnt mit der persönlichen Umkehr und dem Glauben an die Nähe der Gottesherrschaft – wie es Jesus programmatisch verkündet hat (vgl. Mk 1,14). Evangelisierung, die mit der Selbstevangelisierung beginnt, ist und bleibt die Hauptaufgabe der Kirche!
Ein zweites Zukunftskonzept von Kirche ist, sie als Schule des Lebens und Schule der Weisheit weiterzuentwickeln. Die meisten unserer Zeitgenossen leben in einem unreflektierten Agnostizismus oder religiösen Analphabetismus. Gleichzeitig zeigt sich immer mehr das Bedürfnis nach Spiritualität und eine Sehnsucht nach Lebensweisheit, weil sich viele orientierungslos vorkommen und von der Komplexität des modernen Lebens überfordert fühlen. Die traditionell kirchliche Religiosität schwindet mehr und mehr und deshalb bleibt die Sehnsucht nach Hilfen zur Lebensbewältigung und Lebenserfüllung unerfüllt. Es gibt zwar auch heute noch den kämpferischen Atheismus, der sich mit einer innerreligiösen Gruppierung, dem Fundamentalismus, berührt. Beide Gruppen sind Minderheiten, die jedoch lautstark in Erscheinung treten, um damit die eigene Schwäche zu überdecken. Ihr gemeinsamer Schwachpunkt ist, dass man die dauernde Suche nach dem verborgenen, geheimnisvollen Gott verweigert und sich in einer dogmatischen Festung verschanzt.
Kirche hat Zukunft, wenn sie sich als offene Lerngemeinschaft begreift. Was ist zu lernen? Nichts weniger als das, was man die „göttlichen Tugenden“ nennt: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Der Mensch kommt nur zu sich selbst, wenn er aus sich heraus und über sich hinausgeht. Diese „Selbsttranszendenz“ müssen wir immer wieder lernen und einüben. Wahre Spiritualität ist der „Ausgang des Menschen“ (Kant) aus den engen Grenzen des triebgesteuerten Ego und das engagierte Unterwegssein hin zum Du und zur Gemeinschaft mit anderen, bis hin zu der einen Menschheitsfamilie – damit Gerechtigkeit und Frieden sich ausbreiten. Das ist das Ziel des heutigen Exodus!
Ob die traditionellen Pfarreien diese Lernorte des Glaubens sein können, muss bezweifelt werden. Sie sind vor Jahrhunderten unter anderen gesellschaftlich-kulturellen und pastoralen Bedingungen und in einem anderen Selbstverständnis von Kirche entstanden. Dieses Netz der Seelsorge durch Großpfarreien immer breitmaschiger auszulegen und die Lücken durch Importe von Priestern wieder auszugleichen, dürfte nicht gelingen. Das jetzige System in Deutschland lebt mehr von der Kirchensteuer als von zukunftsfähigen Visionen!
Der Zulauf zu Exerzitienhäusern und geistlichen Zentren sollte uns zu denken geben, ebenso die vielen Versuche, Stressbewältigung, innere Ruhe und Spiritualität in einem weiten Sinn über Körpererfahrungen, zB durch asiatische Übungsformen wie Yoga oder Tai-Chi, zu gewinnen. Es sollte auch zu denken geben, dass unsere Gesellschaft an Vereinsamung, mangelnden Bindungen und – nach Corona – besonders viele Kinder und Jugendliche an psychischen Schäden leiden und deshalb viel psychologische Hilfe nötig ist. Geistliche Zentren könnten in dieser Situation eine große Ausstrahlung haben. Sie sind Orte gemeinsamer liturgischer und sonstiger Feiern, aber auch Orte der Stille, der Kontemplation, des Rückzugs, des Gebets. Hier kann Spiritualität gelernt und eingeübt werden, und zwar in einer Weise, dass Leib und Seele neu zueinander finden. Solche Zentren sind weiterhin Orte des Gesprächs, der geistlichen Begleitung, des Austausches von Glaubenserfahrung, der Gemeinschaft. Die Vertreterinnen und Vertreter der Kirche sind dort nicht bloß Lehrende, sondern auch Lernende. Solche für alle zugänglichen Oasen könnten in Zukunft „Salz“ und „Sauerteig“ innerhalb unserer pluralistischen Gesellschaft sein!
Der große Markt der Esoterik zeigt, dass viele Menschen nach authentischer Lebensweisheit suchen. Weisheit schreiben wir mit „s“, denn es kommt von „weisen“, nicht von „wissen“. Weisheit ist eine Erkenntnis, die auf etwas hinweist – auf etwas Größeres, Umfassenderes. Hören auf Weisheit – das ist so etwas wie eine Fundamentalreligion, eine Art Grundspiritualität des Menschen und gleichzeitig eine ungestillte Sehnsucht des religiös heimatlosen modernen Menschen. Weisheit stellt Wahrheit vor uns hin, Wahrheit, die schon vor unseren Urteilen und Überzeugungen da ist – auch vor jeder Religion und Weltanschauung. Jeder hat die Begabung, dies „Lied in allen Dingen“ – wie es Eichendorff nannte – zu hören. Die Weisheit macht den Menschen zum homo sapiens. Der Mensch sehnt sich danach, wie das lateinische Wort „sapientia“ anklingen lässt, die Weisheit zu „schmecken“, zu „verkosten“ (sapere). Kirche als Schule des Lebens und der Weisheit steht für die mystisch-spirituelle Tradition des Christentums, die uns mit den Weltreligionen, mit den vielen geistlichen Gruppen und mit den transzendenzoffenen humanistischen Traditionen verbindet.
Dieses zweite Konzept könnte leicht zu einem Missverständnis führen, nämlich, als ob die Kirche in solchen Zentren eine abgeschlossene, klosterähnliche Oase und Gegenwelt errichten sollte. Sicher braucht es Oasen des Innehaltens, aber das Ziel der Kirche ist die Verwandlung der Welt. „Der Acker ist die Welt“ (Mt 13,38), sagt Jesus im Gleichniskapitel bei Matthäus. Die Kirche muss auch in Zukunft ihre Rolle als globale politische Mitgestalterin wahrnehmen – und das in einer universellen Perspektive, ausgerichtet auf alle Menschen, ja die ganze Schöpfung. Bei aller globalen Ausrichtung ist und bleibt allerdings immer die Sorge für den einzelnen Menschen unabdingbar, für seinen Leib und seine Seele.
Dieses dritte Konzept verbindet sie mit allen Gruppierungen, denen die Bewahrung der Schöpfung, der Friede und die soziale Gerechtigkeit am Herzen liegen. Mit ihrer zentralen Struktur kann die katholische Kirche auf Weltebene agieren, durch ihre lokale Präsenz kann sie eine „Graswurzelbewegung“ sein. Wahre Entwicklung geschieht in diesem Wechselspiel von oben und unten. Welche andere Organisation hat schon dieses dichte, weltweite Netz von lokalen Institutionen wie die Kirche?
Bei all dem sollte die Nachfolgegemeinschaft eines Gekreuzigten mit großem Gespür auf das vielfältige Leid von Menschen eingehen und es verringern, im Großen wie im Kleinen. Hier trifft ein Bild, das Papst Franziskus geprägt hat: die Kirche – Feldlazarett! Kirche sollte sich immer der Kranken, der Gestrandeten, der von Katastrophen Betroffenen, der Flüchtlinge, der Ausgegrenzten, der Armen, Alten und Sterbenden, der Behinderten annehmen. Sie sollte versuchen, bestehendes Leid zu minimieren und Strategien zu entwickeln, um vorhersehbares Leid zu verhindern. Die Armen sind nach einem berühmten Wort des heiligen Laurentius „der Schatz der Kirche“! Nicht zu vergessen in unseren Breiten: die vielfache seelische Not von Menschen. Das schwindende Sakrament der Beichte im Sinne der offenen Aussprache und der existentiellen Ermutigung hätte hier eine große Zukunft vor sich! Als Seelsorger in der Beichtkirche St. Michael in München habe ich das über Jahre erfahren.
Neben der politischen-sozialen ist die therapeutische Funktion des Glaubens vonnöten. So entsteht eine Atmosphäre der Nähe, der Empathie, der gegenseitigen Verbundenheit und des Respekts. In der Vergangenheit hat die Kirche zu oft moralisiert. Das Leid des einzelnen zu lindern und die Krankheiten unserer Zeit und Kultur anzugehen, ist Aufgabe der Kirche – wie ein gutes Krankenhaus durch Diagnostik, Prävention, Therapie und Rehabilitation. In der Nachfolge Jesu geht es immer um Heilung und Heil. Christus will bis zum Ende der Welt in den Geringsten seiner Brüder und Schwestern erkannt werden, wie er in der Gerichtsszene nach Matthäus kundtut (vgl. Mt 25,31-46).
Impulse für heute
Fragen wir abschließend: Was können wir heute schon tun? Christliche Hoffnung leidet am Wirklichen, auf unser Thema bezogen, am oft miserablen Zustand der Kirche; doch ein hoffender Christ wird mit Leidenschaft schon jetzt an der Zukunft bauen. Dazu einige konkrete Impulse:
· In unseren Dörfern und Städten gibt es überall Kirchen, die zum Teil staunenswert schöne sakrale Zeugnisse sind. Diese heiligen Räume müssen wir erhalten und pflegen, auch wenn sich die Reihen während der Gottesdienste leeren. Der Brand von Notre Dame in Paris hat die ganze Welt bewegt. In Frankreich haben Christen und Antiklerikale geweint. Menschen haben immer noch ein Gespür dafür, dass wir inmitten unserer Konsumwelt, unserer zugepflasterten und verbauten Vorstädte heilige Räume des zweckfreien Daseins brauchen. Nicht von ungefähr sind viele unserer Kirchen Touristenmagnete. Der Kirchturm bleibt trotz höherer Bürotürme immer noch ein Fingerzeig nach „oben“. Sakrale Räume halten den Himmel offen!
· Pflegen wir unsere Liturgien, und zwar gerade für sog. Laien im Sinne der „participatio actuosa“, der „tätigen Teilhabe“, der aktiven Mitgestaltung, auch in der Eucharistie! Helfen Sie mit, dass die Liturgie nicht nur am Pfarrer hängt! Die Kirche ist eine Gemeinschaft des Gedächtnisses, des Erzählens und des Feierns. Unsere Zeit braucht solche Feiern mit Tiefgang! Wo wird denn noch öffentlich gemeinsam gesungen und nicht nur in Massen gegrölt? Pflegen wir die Musik, die das Herz der Menschen erheben kann! In der alten Volkskirche gab es vielfältige Feierformen auch ohne Priester: Ich erinnere mich an das Rosenkranzgebet nach einem Trauerfall, an Maiandachten, an die ewige Anbetung, die jeweils bestimmte Stadtviertel gestalteten. Unter neuen sozialen Bedingungen wären solche Feierformen für heute zu entwickeln!
· Öffnen wir unsere Räume für Menschen, die im weitesten Sinn ein spirituelles Anliegen haben! Mir erzählte ein Pfarrer, dass er mit Hilfe der Diözese den Dachboden in seinem Pfarrhaus zu einem Meditationsraum ausbauen konnte. Zu den regelmäßigen Stille-Meditationen kämen vor allem Frauen aus der mittleren Generation, die er sonst nie in einem Gottesdienst gesehen hätte. Oder: Einige meiner ehemaligen Studentinnen und Studenten bekommen in einem Dorf im Nord-schwarzwald die kleine alte Dorfkirche regelmäßig zur Verfügung gestellt. Sie bieten dort zu den christlichen Hochfesten offene religiöse Feiern an: „Mehr Tiefgang auf der Höhe“ hieß das Motto – und viele junge Familien kommen.
· Kümmern wir uns um Kinder und Jugendliche! Viele ältere Menschen leiden darunter, dass die Generation ihrer Kinder und Enkel den Kirchenkontakt verloren hat. Da sind Opa und Oma die besten Beispiele, wie erlöstes Dasein im Alter aussehen kann. Sie müssen nicht mehr erziehen, können aber durch ihre Persönlichkeit, ihre Lebenser-fahrung und ihre selbstverständliche Glaubenspraxis mehr anstoßen als ihnen bewusst ist. Das Sein wirkt mehr als das Tun!
· Entwickeln wir das rechte Gespür für den „Kairos“, den treffenden Zeitpunkt, wann bestimmte grundlegende Reformen dran sind. Ich denke, dass die Gleichstellung der Frauen bis hin zum priesterlichen Dienst auf alle Fälle kommen, dass die Verpflichtung aller Priester auf die zölibatäre Lebensweise nicht auf Dauer bestehen wird, dass für die künftige Form der Kirche das synodale Paradigma prägend sein wird und dass wir eine durchlässige Form der ökumenischen Verbundenheit aller christlichen Konfessionen haben werden. In diese Richtung heißt es, mit Mut, Geduld und mit Augenmaß für den richtigen Zeitpunkt voranzugehen. Überstürzte Reformen laufen ins Leere und bewirken oft das Gegenteil. Auf die richtige Mischung von Geduld und heiliger Unduldsamkeit, auf das Gespür für den rechten Augenblick kommt es an! Reformen ohne geistlichen Tiefgang werden versanden. Das müssen sich auch die Ungeduldigen beim synodalen Weg sagen lassen!
· Ein leidiges, bedrängendes Thema, das viel zur Entfremdung von der Kirche beiträgt, ist das Thema Sexualität. Da müsste die offizielle Kirche lernen, heutige wissenschaftliche Erkenntnisse und die existentiellen, oft leidvollen Erfahrungen von Menschen ernst zu nehmen, statt auf starren moraltheologischen Positionen zu beharren. In der pastoralen Praxis wird, was zB die Frage der Homosexualität oder der Wiederverheiratung Geschiedener angeht, GottseiDank schon viel mehr akzeptiert als nach dem Buchstaben des Gesetzes möglich wäre. Die kirchliche Moral war zu sehr auf das Thema Sex fixiert, hat dabei das rein Körperliche isoliert betrachtet und tabuisiert und hat es dadurch überhöht. Die Leiblichkeit des Menschen wäre heute in eine umfassende Vision von Liebe zu integrieren. Verantwortungsbewusstsein, Freiheit und menschliches Gespür müssten sich die Hand geben, um eine unverkrampfte Sexualmoral zu entwerfen!
· „Heute religiös sein, heißt interreligiös sein.“ Das ist ein markanter Satz aus einem Dokument des Jesuitenordens. Die verschiedenen Religionen leben heute in unmittelbarer Nachbarschaft nebeneinander. Schaffen wir Räume für Begegnung und Kontakt! Reden wir miteinander statt übereinander! Suchen wir das Gemeinsame und das, was dem Frieden dient! Papst Franziskus macht uns das vor. Die Enzyklika „Fratelli tutti“ mit ihrer Betonung der universalen, geschwisterlichen Verbundenheit ist dafür ein leuchtendes Wegzeichen!
· Suchen wir Koalitionen mit „Menschen guten Willens“, mit Gruppen, denen die Zukunft des Planeten und der Menschheit ebenso am Herzen liegt. Ich denke da an die ökologische Bewegung, an Organisationen wie Amnesty, an lokale Initiativgruppen, die auf der Ebene der Kommune oder des Kreises etwas verhindern oder auf den Weg bringen wollen. Die Kirche hat weder das Monopol auf den Glauben noch die führende Rolle in der Ausgestaltung der Gesellschaft und Politik. Tun wir uns zusammen mit Menschen, die ähnliche Anliegen haben!
· Das Christentum setze sich in der Antike durch, weil es die Werte einer pyramidalen Gesellschaft von innen her verwandelte: Nicht mehr Macht, Reichtum und Abschottung der sozialen und ethnischen Gruppen, sondern Solidarität zählte! Die jüdische Nachbarschaftsethik wurde von den Christen übernommen. Pflegen wir in unseren Wohnvierteln diese gegenseitige Verbundenheit. Ich weiß von Mitbrüdern aus Indonesien, dass dort die Pfarreien in kleine „Units“, Einheiten aufgeteilt sind, wo man füreinander soziale Verantwortung übernimmt: ältere Menschen für die Kinder, Erwachsene der mittleren Generation für die Alten und Kranken. Man weiß umeinander und bildet ein Netz der Solidarität. Unser heutiges professionelles Sozialsystem kann und braucht gar nicht alles zu leisten. Statt professioneller Nüchternheit könnte auch bei uns ein Bewusstsein für die „Großfamilie“ Kirche sich entwickeln. Das wäre alles schon heute möglich und nötig.
· Halten wir bestimmte Werte hoch! Ich denke an den hohen Wert der Familie, den Wert des werdenden und des verlöschenden Lebens, den Wert gerecht bezahlter Arbeit. Bringen wir diese Themen entschieden und sachkundig in die öffentliche Diskussion ein!
· Reden wir in der säkularen Umwelt offen und selbstverständlich von unserem Glauben und geben wir in aller Bescheidenheit Rechenschaft von christlicher Hoffnung! Kirche der Zukunft wird es nur geben, wenn es authentische Christen gibt! Vor allem durch echte Begegnung mit Menschen, aus das Miteinanderteilen von existentiellen und spirituellen Erfahrrungen wächst Zukunft. Wenn schon die Mitte unserer Religion eine Person ist, dann geht auch der „Staffellauf“ des Glaubens durch die Geschichte nur über Personen weiter. Dabei gilt: Wir können letztlich nur „Contemplata tradere“, das heißt, das weitergeben, was wir selbst durchlebt, durchlitten und durchbetet haben.
Sicher gäbe es noch viele Anregungen, um heute schon das Morgen vorzubereiten. Vieles wird von Ihrer Situation vor Ort abhängen. Vor allem aber sind alle Anregungen, die ich Ihnen vorgetragen habe nur dann auf Dauer tragfähig, wenn wir als Kirche – und insbesondere ihre offiziellen Amtsträger – wirklich dazu bereit sind, sich von innen heraus, d.h. spirituell, zu erneuern. Ein Basissatz des ganzen Evangeliums fällt im Gespräch Jesu mit dem alten Nikodemus: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er ihr seinen einzigen Sohn schenkte“ (Joh 3,16). Hören wir nie auf, die Dienstgesinnung Jesu Christi zu pflegen, seinen Geist in uns zu entfalten und uns im Vertrauen auf den Abba Jesu der Welt und den Menschen von heute zu schenken!