Abgestiegen zu der Hölle

Impulsvortrag zur Karwoche 2015 in St. Michael

Einstimmung

„Abgestiegen zu der Hölle“, so habe ich in jungen Jahren noch beim Apostolischen Glaubensbekenntnis gebetet. Nach dem Konzil wurde dieser Glaubensartikel umformuliert. Wir beten heute „Abgestiegen in das Reich des Todes“.

Bevor ich versuchen werde, diesen Satz theologisch zu deuten, möchte ich Sie auf ihre subjektive Reaktion hin ansprechen.

Fragen Sie sich einmal in Stille: Was verbinde, was assoziiere ich mit diesem Satz „Abgestiegen in das Reich des Todes... bzw zu der Hölle“? Welche Vorstellungen steigen in mir auf? Oder bleibt mir dieser Glaubensartikel schlicht ein Rätsel? Bete ich ihn vielleicht nur mechanisch mit? Oder wirft er, wenn ich es genau bedenke, mehr Fragen auf? Wenn ja, auf welche dieser Fragen hätte ich heute Abend gerne eine Antwort? Bitte fragen Sie sich – und vielleicht haben Sie das schon längst getan – einmal selbst: Was erwarte ich von diesem Impulsvortrag? Welche Fragen bringe ich mit?

Geben wir uns deshalb einige Augenblick der Stille .....

 

Descendit ad inferos: Jesus war tot

Es geht heute Abend um die Theologie des Karsamstags, der liturgisch ein stiller Tag ist. Auch die heilige Schrift ist äußerst schweigsam, was diesen Tag angeht. Die Schriftstellen, die sich diesem Tag widmen, sind äußerst dunkel und vieldeutig. Dem, was hinter der Stille des Karsamstag steht, wollen wir uns heute Abend zuwenden.

Richten wir als erstes einen philologischen Blick auf unser Thema. Die beiden deutschen Formulierungen übersetzten einen Halbsatz - „Descendit ad inferos“ – , der erst um 350 n. Chr. ins Glaubensbekenntnis kam und der schlicht sagt: Jesus war tot, er ist wirklich gestorben, wie wir unmittelbar vorher im Glaubensbekenntnis beten: „Gekreuzigt, gestorben und begraben ...“. Das sind historische Fakten, auf denen unser Glaube aufruht.

Mit „Abgestiegen in das Reich des Todes“ geraten wir aus der Welt der Historie in mythologische Vorstellungen. Dieser Satz steht nicht auf einer Ebene mit dem Satz „Er ist gestorben und wurde begraben“. Die mythisch-allegorische Weiterentwicklung durch das Descensus-Motiv vermehrt nicht das geschichtliche Wissen, sondern vertieft es in den Denkbahnen der damaligen Zeit.

Der antike Mensch stellte sich das Universum dreistöckig vor: Himmel, Erde und die Unterwelt oder die Tiefen der Erde. Dort unten ist der Aufenthaltsort der Toten, deren Seelen ein trübes Schattendasein führen, das in seiner Isolation nicht mehr den Namen „Leben“ verdient. Für Griechen, Römer und Juden bedeutet „sterben“ „in die Unterwelt hinabsteigen“ – in die Scheol (hebräisch), in den Hades (griechisch) oder in die Inferna, die lateinische Unterwelt bzw ad inferos „zu den Unteren“. Eines sei sofort klargestellt: Das „Reich des Todes“ bzw die „Hölle“, von der das Glaubensbekenntnis spricht, ist nicht die christliche Hölle als Ort der ewig Verdammten. Die, das sei vorweg gesagt, kann es erst seit Christus geben. Doch dazu später.

Halten wir als erstes fest: Das Motiv vom „Descensus“ besagt: Jesus war wirklich tot, nicht scheintot, wie zB der Koran meint oder Gegner des Christentums behaupteten. Er hat das allgemeine Todeslos der Menschheit geteilt, doch sein Tod hat eine exklusive, eine einzigartige Bedeutung, weil er inklusiv das Todesgeschick aller Menschen umfasst. Dieser Tod ist der Zielpunkt seiner ganzen Sendung, seiner radikalen Solidarität mit uns Menschen. „Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt“, so lautet ein Wort des Auferstandenen in der Offenbarung des Johannes (Offb 1,18)

 

Glaube an mythologische Vorstellungen?

Doch was sollen wir heute mit den mythologischen Vorstellungen anfangen, die den Tod Jesu im damaligen Weltbild deuten?

Adolf von Harnack, einer der großen evangelischen Theologen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, meinte schon vor über hundert Jahren: „Was heute in den Kirchen eine vertrocknete Reliquie ist, war damals (in der Alten Kirche) nicht nur ein, sondern das Hauptstück der Verkündigung vom Erlöser.“

Haben Sie in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten schon einmal in einer katholischen Kirche eine Predigt zum Abstieg Jesu in das Reich des Todes gehört? Liegt dieser unser Glaubensartikel nicht irgendwo in der theologischen Rumpelkammer verstaubt und vergessen herum?

Vielleicht hat vorhin bei der ersten subjektiven Annäherung an unser Thema jemand von ihnen gedacht: Mir hat dieser Glaubensartikel eigentlich nichts zu sagen. Ich kann ihn beiseite lassen. Das war übrigens auch die Meinung von Rudolf Bultmann, der nach dem Ersten Weltkrieg einer ganz neuen Richtung in der protestantischen Theologie angehörte, welche die Schrift mit der Existenzfrage des modernen Menschen in Verbindung brachte. Bultmanns Programm der Schriftbetrachtung firmiert unter dem Namen „Entmythologisierung“. Im Rahmen dieses Entmythologiserungsprogramms waren die Bekenntnisaussagen zu Höllenabstieg oder auch zur Himmelfahrt Christi schlichtweg erledigt.

Nicht ganz so radikal, doch in dieser Grundströmung denkt auch der katholische Theologe Hans Küng. „Nirgendwo deutlicher als bei diesem Artikel zeigt sich, dass eben nicht alle .. Glaubensartikel dieselbe Bedeutung und Dignität haben“, so schreibt er. Kreuz und Auferstehung seien „absolut zentral“. Für den Abstieg in die Unterwelt gebe es „kaum einen unzweideutigen neutestamentlichen Beleg“. Er fährt fort: „Heute, fast 2000 Jahre nach Christi Geburt, käme wohl niemand auf die Idee, diesen Artikel neu ins Glaubensbekenntnis einzufügen ...“, denn: „..für heutige Zeitgenossen (habe er) seine existentielle Bedeutung weithin eingebüßt“.

 

Zentrale Bedeutung in der Ostkirche

Ganz anders war das in der Theologie und Frömmigkeit der ersten Jahrhunderte, besonders in der Ostkirche. Das zeigt sich besonders in den Osterikonen. Nach der Darstellung der Frauen am leeren Grab setzt sich schon sehr bald eine andere Ikone durch, die das Glaubensgeheimnis unserer Erlösung von Sünde und Tod ins Bild bringt. Zentrales Motiv dieser Darstellung ist das Hinabsteigen Christi zu Adam in die Unterwelt. Auf den frühesten Darstellungen sind im Zentrum drei Personen zu sehen: Adam, Christus und eine nackte männliche Gestalt, die am Boden liegt. Christus, der mit einer Mandorla aus Licht umgeben ist, steht als Triumphator mit einem Bein auf dem Kopf jenes Mannes, der den Hades symbolisiert und Adam noch mit einer Hand am Bein festhält. Die Tore der Unterwelt sind zerbrochen und liegen über Kreuz da. Der Erlöser fasst mit seiner Rechten Adams Hand. Der hat schon einen Fuß aus dem Totenreich herausgesetzt. Neben Adam können noch Eva oder andere Gerechte des Alten Bundes erscheinen.

Dieser Ikonentyp trägt den Titel „Anastasis“ – „Auferstehung“. Im Unterschied zur Westkirche, die mit dem Thema „Auferstehung“ bildlich meist den sich aus dem Grab erhebenden Christus verbindet, stellt uns die Ostkirche die innige Bezogenheit der Passion und Auferstehung Christi auf die Erlösung aller Menschen vor Augen. Die Fahrt ins Totenreich wird zur Triumphfahrt, die „Auferstehung“ in ihrer sozialen, universalen Dimension aufscheinen lässt. Diese Ikone hat antizipatorischen Charakter: Sie schiebt Ostern in den Karsamstag ein. Ein objektiv-passives Geschehen wird zum aktiven Triumph. Die Heilsmöglichkeit für alle, für die alttestamentlichen Gerechten wie für die ganze vorchristliche und nichtchristliche Menschheit wird in diesen Bildern vor Augen geführt.

Wir stehen vor einer vieldeutigen Gemengelage: Einerseits die zentrale Bedeutung der „Höllenfahrt“ in der Theologie und Ikonographie der Ostkirche, andererseits das Verschweigen und die Skepsis in der westlichen Theologie.

 

Hans Urs von Balthasar: Theologie des Karsamstag

Wenden wir uns nun einem westlichen Theologen zu, der versucht hat, die „verstaubte Reliquie“ wieder aufzupolieren und ins Zentrum seiner heilsdramatischen Theologie zu rücken. Die Rede ist von dem Schweizer Hans Urs von Balthasar (1905-1988). Er hat sich wie kein zweiter mit der Theologie des Karsamstag auseinandergesetzt und ist dabei von den Visionen Adrienne von Speyrs geprägt. Balthasar fragt nach den biblischen Grundlagen, um zu klären, „wieweit der Ausdruck ‚descendit ad inferos’ als gültiges Interpretament der biblischen Aussagen gelten kann“. Auch er hält die Vorstellung, dass ein toter Christus in die Hölle absteigt, um die Pforten der Unterwelt aufzubrechen und die Toten den Ketten Satans zu entwinden, für mythologisch. Allerdings bleibt er bei der Kritik nicht stehen, sondern fragt nach dem theologischen Gehalt des Descensus ad inferos.

Um die Neuinterpretation des Höllenabstiegs zu verstehen, müssen wir erst die Gesamtintuition von Balthasars Theologie in den Blick nehmen. Sein theologisches Denken ist ausgerichtet auf das Heil, die Rettung aller. Da erhebt sich die Frage: Kann Gott an seiner Schöpfung scheitern, wenn auch nur eines seiner Geschöpfe verloren geht? Mit der Erschaffung von freien, eigenständigen Wesen ist Gott das Risiko des Widerspruchs, der radikalen Ablehnung und Zurückweisung seiner ausgestreckten Versöhnungshand eingegangen. Kann Gott den sich versteifenden Sünder noch erreichen? An dieser Stelle erhält die Karsamstags-Christologie ihre Brisanz.

 

Ohnmacht der Liebe: aktive und passive Läuterung 

Am Kreuz hatte Christus sich aktiv der äußersten Gottesferne ausgesetzt. Er hat die Gottverlassenheit erlitten – aus freiem Willen und aus Solidarität mit der Gottverlassenheit der Menschen. Im Totsein erleidet er diesen Zustand passiv.

 

Eine Zwischenbemerkung: In der christlichen Mystik, zB bei Johannes vom Kreuz, gibt es diese zwei Stufen der läuternden Reinigung: das aktive „Lassen“, die bewusste Aszese und das viel schmerzhaftere passive Erleiden, die Dunkelheit, die den Menschen aller Eigenaktivität beraubt. In dieser dunklen Nacht der Sinne und des Geistes, in dieser radikalen Armut und Ausgesetztheit kann die Gnade erst in voller Stärke durchbrechen. „Wie anders als durch ein gebrochenes Herz zieht der Heiland ein“, fragte Oscar Wilde.

 

Die Betrachtung der Gottverlassenheit Jesu im Sterben und sein Totsein lassen den Schweizer Theologen zögern, die alte Theologie des Descensus als Triumphzug zu deuten. Das wäre falscher Triumphalismus. Nicht die Macht des siegreichen Christus hat die Todesmacht überwunden, sondern die Ohnmacht des Liebenden, die Miterfahrung der hoffnungslosen Gottgetrenntheit.

 

Im Tod, so Balthasar, hat Christus die „höllische“ Erfahrung der Gottesferne geteilt. „Hölle“ ist hier – wie für die Mystiker – nicht ein lokalisierbarer Ort, sondern ein innerer Zustand. Anders als die Topographie des Jenseits, die Himmel, Purgatorium und Hölle kosmologisch verortet – man denke an die „Divina Commedia“ Dantes – fasst Balthasar die „letzten Dinge“ strikt theologisch: „Gott ist das Letzte Ding des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegfeuer“, so seine programmatische Aussage. Und weiter: „Er ist es aber so, wie er der Welt zugewendet ist, nämlich in seinem Sohn Jesus Christus, der die Offenbarkeit Gottes und damit der Inbegriff der Letzten Dinge ist.“

 

Hoffnung für alle – durch Christus

Entscheidend für Balthasar ist, dass sich mit Christi Gang zu den Toten die Wende zum Heil bereits ereignet hat. Sein äußerster Selbsteinsatz, der mit den Augen des Glaubens an der „Gestalt seiner zerbrochenen Liebe“ abgelesen werden kann, rechtfertigt die Hoffnung auf die Rettung aller. Anders als Augustinus der – in seinem Spätwerk „De civitate Dei“ – mit einer „massa damnata“, einer Vielzahl von Verdammten, rechnet, anders auch als der Ägypter Origenes, der die Apokatastasis-Lehre, die Lehre von der „Allversöhnung“ entwickelt hat, proklamiert Balthasar die Hoffnung auf die Rettung aller, auch der verstocktesten Sünder. Diese Hoffnung ist christologisch begründet, aber wohlgemerkt als Hoffnung, nicht als Gewissheit, dass alle gerettet werden oder als sicheres Wissen, dass Massenmörder wie Hitler oder Stalin oder andere Übeltäter die Hölle bevölkern. Die Liebe Christi will keinen ausschließen. Die Gerechtigkeit Gottes bleibt Gerechtigkeit und wird doch von seiner Barmherzigkeit umfangen.

 

Natürlich kann man kritisch anmerken: Ist solche Hoffnung nicht wahnwitzig? Geht sie nicht über das Grauen der Geschichte und das unsagbare Leid der Opfer hinweg? Muss nicht schreiendes Unrecht die nötige Strafe nach sich ziehen? Balthasar schiebt solche Fragen nicht beiseite. Ausdrücklich betont er, dass erst im Angesicht Gottes das ganze Ausmaß an Sünde und Schuld offenbar werden wird. Vor Christus, dem Richter, werde keinem die „Höllenfahrt“ in die Abgründe der eigenen Schuld erspart. Vor Christus, dem Retter, werde zugleich jedem Heil angeboten, nicht in einem Akt der Überwältigung oder des automatischen Eintrittsbilletts in den Himmel, sondern in der Haltung des Appells an den freien Willen, im Akt der Werbung um Einsicht und Zustimmung.

 

Christus, der noch Ohnmächtigere

Was geschieht, wenn an diesem heiklen Punkt, jemand das Angebot Gottes ausschlägt und sich verhärtet und verkrampft? Ist dann Gott auch am Ende seiner Möglichkeiten, jener Bundesgott, der die Freiheit des Menschen achtet und ernst nimmt? Balthasar deutet an dieser Stelle eine „äußerste Möglichkeit“ an: „Ist die menschliche Freiheit nicht absolut genug, dem vollkommenen Ja Gottes endgültig zu widerstehen und sich in eine selbstgenügsame Einsamkeit zu verschließen? Hier wäre vielleicht zu erwägen, dass Gott den Neinsager sicherlich nicht durch seine Allmacht überwältigt, seine Verschlossenheit gleichsam gewalttätig aufknackt, dass aber der in Ohnmacht rein auf sich selbst Bezogene doch wohl nicht umhin kann, einen noch Ohnmächtigeren neben sich wahrzunehmen, der ihm die Absolutheit seiner Einsamkeit streitig macht. ... Wir können uns diese Erfahrung einer überholten, besiegten Absolutheit nicht näher ausmalen. Aber sie kann uns doch zu einer umfassenden Hoffnung für alle berechtigen. Eine solche zu hegen, ist uns nicht verboten, wir dürfen sogar sagen, sie sei uns geboten angesichts von Worten Jesu, wie dass er am Kreuz alle an sich ziehen wird, und Pauli, der uns sagt, Gott wolle, dass alle Menschen gerettet werden, und deshalb der Kirche vorschreibt, für alle zu beten (1 Tim 2,15).“

 

Christus nimmt die Hölle mit sich

Was geschieht an Christus am Karsamstag? Er erfährt die Sünde, die Gottgetrenntheit als solche. Er wurde für uns „zur Sünde gemacht“, wie Paulus sagt (2 Kor 5,21). Das meint nicht, er wird zum Sünder, sondern: Er hält mit den Sündern die Sündenstrafen aus. Er erlebt den Schmerz des Verdammtseins.

 

Machen wir uns das an einer menschlichen Erfahrung bewusst: Wenn ein naher Mensch, zB der Partner, die Partnerin oder ein Kind sich schwer vergangen, die eigene Gesundheit und die eines anderen Menschen ruiniert haben, dann kann ihm oder ihr niemand die Folgen der Schuld abnehmen, auch nicht ein solidarischer Lebenspartner, auch nicht die Eltern. Aber die Liebe kann an der Seite eines solchen Menschen bleiben, seinen Schmerz, seine Schuldgefühle mitempfinden, sein Leid mit aushalten und dem Schuldigen heilend und nicht verurteilend zur Seite stehen.

 

Kehren wir zum Karsamstag zurück: Christus hält die Sündenstrafen aus, um Schuld zu versöhnen, um zu „sühnen“. Christus sieht die Sünde an sich, die absolute Hölle als Zustand reiner Verworfenheit. Das kann nach Balthasar keine bevölkerte Hölle sein, es ist deren reine Substantialität als Sünde an sich. Erst seit dem Kreuzestod Jesu kann man christlich von der Möglichkeit der Hölle sprechen. Diese äußerste Liebestat müsste man ablehnen, und zwar radikal, um in der Hölle zu sein. „Christus lässt den Hades hinter sich und nimmt die Hölle mit sich.“ Er stiftet die “Kreuzesfrucht“ in den Abgrund der Verlorenheit und Todesverfallenheit ein. Damit geschieht ein dialektischer Umschlag. Aus der Niederlage wird Sieg.

 

Balthasar hebt in seiner Theologie einen Aspekt hervor, der in der bisherigen Tradition zu kurz kommt. Der Karsamstag, der Tod Christi, trägt nichts Triumphales an sich. Es ist wie in der Liturgie: Am Karsamstag gibt es keine Eucharistie, die Altäre sind entblößt, wir besuchen lediglich das Grab Jesu und sind zum stillen Gebet angehalten. Stille, Einkehr, Ernstnehmen der Verborgenheit Gottes sind angesagt. Christus ist wirklich gestorben. Gott, ja die Zuwendung, das Wort Gottes selbst begibt sich ins Mysterium des Schweigens.

 

Der Stellvertreter unterfasst die Hölle

Christus als Erlöser ist der Stellvertreter schlechthin. Er wurde „zur Sünde gemacht“ um unseres Heiles willen. Er tritt im Descensus an den Ort der Beziehungslosigkeit, an den sich der Sünder begeben hat. Und „Hölle“ im absoluten und strikten Sinn wäre der endgültige Abbruch der Beziehung zu Gott. Christus tritt an den Ort, wo dieser Abbruch droht und bleibt doch in der Beziehung zum Vater. Das ist mit der von Balthasar oft gebrauchten Metapher der „Unterfassung“ oder „Unterwanderung“ der Hölle gemeint. Seit Gott in Jesus an die Stelle der äußersten Gottferne der Weltgeschichte getreten ist, hat die Hölle einen Ausweg für jeden Sünder, der sich von Christi Stellvertretung ergreifen lässt.

 

„Hölle“ im strengen Sinn gibt es erst seit Christus – wobei wir immer bedenken müssen: Wir reden hier von einem Bereich jenseits des Todes, in dem unsere Zeitkategorien von vorher und nachher nicht mehr greifen. Sachlich-theologisch gilt: Die Stellvertretung Christi bis in die tiefsten Abgründe hinein ist die äußerste Möglichkeit, das äußerste Angebot Gottes. Durch den Abstieg Christi gibt es nichts mehr außerhalb der Herrschaft Gottes. Nichts ist mehr getrennt von ihm. Jede menschliche Verlorenheit wird von Christus umfasst. Er steigt für Opfer und Täter in den tiefsten Kreis der Hölle. Wer dieses Angebot ablehnen würde, würde sich selbst verdammen und wäre wirklich „in der Hölle“.

 

Diese äußerste Nacht des Gehorsams und die letzte Solidarität Jesu Christi mit den Toten in ihrer Verlassenheit und Einsamkeit sind der Sieg Gottes über Tod und Sünde. Die Botschaft des Karsamstag weist somit voraus auf den Sieg des Lebens über den Tod und auf die Erhöhung des Gekreuzigten zum Herrn der Welt.

 

Überwindung der Hölle

Im Hebräerbrief ist zu lesen: „Da nun die Kinder Menschen von Fleisch und Blut sind, hat auch er in gleicher Weise Fleisch und Blut angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren.“ (Hebr 2,14f)

 

Seine Niedrigkeit wird unsere Erhöhung, seine Knechtschaft unsere Freiheit, seine Vermenschlichung bis in den Tod unsere Vergöttlichung. Unter allen Mysterien des Lebens Jesu ist der descensus ad inferos das rätselhafteste. Worin besteht dieses Mysterium? Wohl darin, dass Christus in seinem Tod jedem Menschen begegnet. Das ist mehr als Solidarität, das ist die Zuwendung des barmherzigen Gottes zu Sünde und Tod.

 

Kardinal Ratzinger hat kurz vor seiner Wahl zum Papst die Meditationen zum römischen Kreuzweg geschrieben: „Abgestiegen zur Hölle, dies Bekenntnis des Karsamstags bedeutet, dass Christus das Tor der Einsamkeit durchschritten hat, dass er abgestiegen ist in den unerreichbaren, unübersteigbaren Grund unseres Verlassenseins. Es bedeutet, dass auch in der letzten Nacht, in die kein Wort mehr dringt, in der wir alle wie weinende, ausgestoßene Kinder sind, eine Stimme ist, die uns ruft, eine Hand, die uns nimmt und führt. Die unübersteigliche Einsamkeit des Menschen ist überstiegen, seitdem ER in der Hölle war. Die Hölle ist überwunden, seitdem die Liebe auch in die Region des Todes eingetreten ist und das Niemandsland der Einsamkeit bewohnt wird von ihm. Der Mensch lebt im Tiefsten nicht vom Brot, sondern im Eigentlichen seines Menschseins lebt er davon, dass er geliebt wird und selber lieben darf. Seitdem es die Anwesenheit der Liebe im Raum des Todes gibt, gibt es Leben mitten im Tod.“

 

Spiritualität des Karsamstag

Wie können wir das Mysterium des Karsamstag das Jahr über begehen?

Als erstes ein Hinweis zu unserem Beten.

Beten heißt: Sich als ganzer Mensch vor Gott bringen und etwas an uns geschehen lassen. Beten geht nicht an der eigenen Person vorbei. Karsamstagsgebet – auch während des Jahres – ist dann: Sich mit dem Dunklen, dem Unbegreifbaren, mit dem Traumatischen, dem Unbewältigten in uns vor Gott bringen.

 

Irenäus von Lyon schrieb im zweiten Jahrhundert. „Nur das Erlittene kann geheilt und erlöst werden.“ Manche meinen, man müsse durch Gebetsformeln die Angst übertönen. Nein, ich bringe mich mit meiner Angst, meiner Einsamkeit, meiner Verlorenheit. In jedem Bereich unserer Psyche, selbst in den höllischen Zonen unserer Innenwelt, ist Gott gegenwärtig. Wir sprechen die Ängste aus wie Jesus aus Ölberg, wir schreien sie hinaus wie Jesus am Kreuz. Keiner muss tapferer sein als der Herr selbst. Doch neben und nach diesem aktiven Zugehen auf Gott heißt es noch mehr, sich passiv in seinem Schmerz Gott zu überlassen.

 

Nicht in Ärger, Unmut oder Anklage sich verfangen und hängen bleiben. Vom Schmerz kann uns Gott erlösen, vom festgehaltenen Ärger, von der Daueranklage gegenüber anderen nicht. Beten heißt manchmal, innerlich durchs Fegfeuer, ja durch die Hölle gehen, unsere Verlorenheit aushalten in der Hoffnung wider alle Hoffnung, dass da einer mit uns ist. Jesus teilt am Karsamstag gerade diese dunklen Erfahrungen mit uns.

Matthias Claudius schrieb Ende des 18. Jahrhunderts:

In uns ist zweierlei Natur 

Doch ein Gesetz für beide; 

Es geht durch Tod und Leiden nur  

Der Weg zur wahren Freude.“

Beten im Licht des Karsamstag heißt: Sich diesem Verwandlungsprozess aussetzen.

 

Ein zweiter Ansatz:

Im Reich des Todes, der Verlorenheit, der Einsamkeit können wir für andere Symbole der Gegenwart Gottes sein. Den Heruntergekommenen Ehrfurcht erweisen, ihnen so Würde und Selbstvertrauen geben, das ist gelebte Karsamstags-Spiritualität. Da Jesus für uns alle eintritt, können gläubige Menschen Christi Stelle einnehmen in den vielfältigen Todeszonen dieser Welt. Aus dem  „Für-uns“ Jesu Christi erwächst das christliche „Für-einander“.

 

Gibt es vielleicht in meiner Umgebung einen alten Menschen, der von seinen Kindern und Enkeln vergessen und vernachlässigt wird? Welcher Besuch, welcher Anruf könnte für uns heute eine Höllenfahrt werden, um einem Kind Gottes einen Sonnenstrahl mitten im Halbdunkel oder gar im tiefsten Dunkel zu bringen? Karsamstags-Spiritualität heißt, im aktiven Zugehen auf andere die Scheu vor Leiden und Tod überwinden.

 

Maurice Blondel hat in einem seiner „Carnets intimes“ notiert: „C’est notre jour: Le Samedi Saint.“ Dort, wo in unserer Welt „Hölle“ ist, sollten Christen als „alter Christus“, als anderer Christus in Stellvertretung stehen und der drohenden Hölle den letzten Schrecken zu nehmen.

 

München, März 2015

Karl Kern SJ

 

Zurück
Zurück

Wie heute von Gott reden - in einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft?

Weiter
Weiter

In welcher Welt wollen wir leben?