Wie heute von Gott reden - in einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft?
Vortrag in Baierbrunn
Hinführung: eine heikle Frage
Wie heute von Gott reden – in einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft? Dieser Frage werden wir heute Abend nachgehen. Ich muss gestehen: Die Frage ist heikel. Denn sie rückt Ihnen, sie rückt uns allen auf den Leib. Warum? Weil die Frage nach Gott die Frage nach dem Sinn des Ganzen ist; und damit die Frage nach dem Ziel unseres Lebens insgesamt und der Sinnhaftigkeit jeder einzelnen Lebensentscheidung. Einzelnes wird nur sinnvoll im Horizont des Ganzen. Der Gottesfrage als Sinnfrage kann niemand ausweichen.
Natürlich kann man sagen: Über den Sinn des Ganzen kann ich keine Auskunft geben, kann auch nicht sagen, ob Gott oder etwas Göttliches hinter unserem Kosmos steht. Was ich sicher sagen kann: Es gibt in meinem Leben, nach meiner Überzeugung bestimmte Sinnfelder, die für mich klar sind: zB dass ich ehrlich sein sollte, dass ich für meine Familie sorge, dass mir das ökologische Gleichgewicht unserer Erde ein Anliegen ist.
Aber, so gebe ich zu bedenken, auch wenn wir theoretisch die Gottesfrage letztlich nicht beantworten können, durch jede Entscheidung in unserem Leben, durch unser gelebtes Leben beantworten wir die Frage nach unserem Lebenssinn. Die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit beantworten wir so oder so, ob wir wollen oder nicht; und diese Frage hat immer mit uns zu tun und deshalb ist es ein heikles, weil sehr existentielles Thema heute Abend.
Einige Schlaglichter zur Gottesfrage heute
Halten wir zunächst ein wenig Umschau: Wie stellt sich denn heute die Gottesfrage? Stellt sie sich überhaupt?
„Wir haben ein Problem mit Gott, weil er uns nicht mehr imponiert“, meint der Philosoph Peter Sloterdijk. Hat er damit einen Nerv der Zeit in unserer Kultur getroffen? Max Weber nannte sich in einem Brief (an Ferdinand Tönnies) vom 9.2.1909 „religiös absolut ‚unmusikalisch‘, ... weder antireligiös noch irreligiös“. Viele Zeitgenossen würden ihm wohl zustimmen und sagen: Mit Glaube und Kirche kann ich nichts anfangen. Gott wird, so der Eindruck von vielen, in den Kirchen mehr verwaltet als verehrt. Er wird nicht imponierend und faszinierend rübergebracht. Die Kirchen leeren sich, Gemeinden überaltern.
Der vor kurzem verstorbene Kunsthistoriker Wieland Schmied hatte anlässlich des Katholikentags 1990 in Berlin die Stimmung von Kunstschaffenden so formuliert: „Gott ist tot – in der Kirche. Die Kirchen scheinen gottverlassen. Darum lasst uns einen weiten Bogen um sie machen, um Gottes willen. Gott ist in der Kirche nicht mehr zu Hause. Darum lasst uns ihn dort suchen, wo wir ihn vielleicht noch finden können – in den Resten der uns verbliebenen Natur; im Dickicht der Städte in den Augen eines Menschen, der uns ansieht; in den Werken der Kunst.“
Gerade Künstlerlinnen und Künstler sind es, die in den letzten Jahren Gott, den Unaussprechlichen, wieder ins Bewusstsein zurückrufen. Nehmen wir zum Beispiel den österreichischen Maler Arnulf Rainer. Er wurde berühmt, weil er bekannte Bilder übermalte. Darauf angesprochen sagte er: „Mit meinen Übermalungen will ich den Bildern das zurückgeben, was sie verloren haben – das Geheimnis ... Aus der Lösung ein Rätsel zu machen ..., das im Hintergrund die Worte Heimat, Daheim-Sein bei Gott buchstabiert.“
„Aus der Lösung ein Rätsel machen ..“ – dem Gottesgeheimnis in unserer Zeit will ich mit ihnen ein wenig nachspüren. Jede Zeit muss immer neu nach Gott fragen. Das große Gottesrätsel kann immer nur bruchstückhaft beantwortet werden.
Beim Blick in unsere Gegenwart fällt auf: Wir leben in religiös unübersichtlicher Zeit. Kirchlicher Glaube schwindet. Auf der anderen Seite gibt es so etwas wie eine Welle der spirituellen Sehnsucht, ja eine Wiederkehr des Religiösen. Der Esoterikmarkt boomt. Meditation ist in Mode gekommen. Die Wellnessindustrie hat die Spiritualität entdeckt. Im Gesundheitswesen wird mehr und mehr auf die spirituelle Dimension geachtet.
Die großen Weltreligionen leben heute, das ist etwas epochal Neues, in unmittelbarer Nachbarschaft. Viele in der westlichen Kultur neigen dem Buddhismus zu. Die Regisseurin Doris Dörrie hat es einmal so ähnlich ausgedrückt: „Da wird mir nicht vorgeschrieben, was ich glauben soll, sondern nur: Hock dich hin, halt deine Klappe und schau, was passiert.“
Ein anderes, medial sehr präsentes Phänomen: der Islam. Muslime gehören zu Deutschland und die meisten erleben wir als friedliche, ganz normale Menschen. Doch ist es für viele säkulare Zeitgenossen befremdend bis verunsichernd, dass Muslime so ostentativ ihren Glauben öffentlich bekunden. Eine weitere Facette bildet der kämpferische, gewaltbereite, intolerante Islam. Hat das Gotteskriegertum der Isis etwas mit Gott zu tun? Oder wird ein monotheistischer Gottesglaube durch solch barbarische Methoden nicht grundsätzlich desavouiert? Wie auch immer: Der Islam wirkt in unseren Breiten herausfordernd. In einer westlichen Kultur der Toleranz und postmoderner Beliebigkeit provoziert der Islam die Frage nach den Grundüberzeugungen unserer Kultur.
Eine weiteres Phänomen unserer Zeit: Fundamentalistische Strömungen haben Zulauf, in und außerhalb der Kirchen. Einfache Lösungen sind immer gefragt, wenn die Lage komplex ist. Dem bedrohlichen Relativismus und Pluralismus werden klare Auskünfte und Schemata entgegengestellt, die wie ein Wall das Chaos bändigen sollen und die Welt von Gott her in gut und böse scheiden.
Auf der anderen Seite sehen wir heute viele Spielarten des Atheismus: einen theoretisch-kämpferischen, der jeden Gottesglauben für unreflektiert bis infantil hält. Viele, die sich als „normal“ bezeichnen, leben einen praktischen Atheismus. Gott kommt einfach nicht vor. Manch sensible Denkerinnen und Denker pflegen so etwas wie einen gläubig-agnostischen Atheismus.
Ein kleines Erlebnis: Ich kam bei einem Tischgespräch mit einem überzeugten Atheisten ins Gespräch, natürlich über Gott und den Glauben. Und er erzählte mir, dass ihn einmal ein Mitbruder von mir in seinem sicheren Unglauben durch einen Hinweis verunsichert habe. Der Jesuit sagte zum ihm: „Den Theologen ist es über Jahrhunderte nicht gelungen, Gott glasklar zu beweisen. Es waren immer nur Hinweise. Ihnen scheint es gelungen zu sein, zu beweisen, dass es Gott nicht gibt. Können Sie mir diesen Beweis vorlegen?“ Der Agnostiker musste zugeben, dass auch er über seinen geglaubten Unglauben nicht hinauskommt.
Antwort des Glaubens auf die heutige Situation
Welche Antwort kann der Glaube auf die heute so vielfältige bis unübersichtliche Situation geben. Schauen wir zunächst kurz zurück in unsere westliche Kultur: Schon 1667 beschwor John Milton in einem epischen Gedicht das „Paradise lost“. Das Paradies einer selbstverständlichen Gottesrede ist in der westlichen Moderne entschwunden. Die Religionskritik des 19. Jahrhundert, der Siegeszug der Naturwissenschaften haben den selbstverständlichen Gottesglauben ausgetrieben. Gottfried Benn beschwor im 20. Jahrhundert das „Verlorene Ich“: Der Mensch - geworfen in eine Welt ohne ordnende Mitte. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließ Jean Paul den „toten Christus“ „vom Weltgebäude herab“ eine „Rede“ halten. Friedrich Nietzsche hat den tollen Menschen emphatisch den Tod Gottes verkünden lassen.
Dieser Situation muss sich die heutige Rede von Gott stellen. „Wir können nicht redlich sein“, so schrieb Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, „ohne zu erkennen, das wir in der Welt leben müssen ‚etsi deus non daretur’ (als ob es Gott nicht gäbe), und eben dies erkennen wir – vor Gott. Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis.“
Wie kann unsere metaphysisch ernüchterte Gegenwart zu einer neuen Heimat für Glaubende werden?
Vermutlich müssen Theologie und Kirche zunächst lernen, ehrlich zu sein; nicht so zu tun, als ob man alles schon wisse. Vielleicht kommt es weniger auf die richtigen Antworten als auf die richtigen Fragen an. „Wer glaubt, fragt“, heißt ein Büchlein von Gabriela Grunden in der Reihe „Ignatianische Impulse“. Oder, um an das Zitat von Arnulf Rainer zu erinnern: Aus der Lösung – dem felsenfesten Glauben an Gott – ein Rätsel machen.
Glaube in der späten Moderne ist eine mögliche Option der Lebensgestaltung. Gefragt ist eine eher tastende Gottesrede, welche die Abgründe des Nicht-Verstehens, der Nicht-Erfahrbarkeit Gottes nicht einfach überspringt.
Das letzte Konzil der katholischen Kirche hat die Verkündigung der Kirche rückgebunden an die „Zeichen der Zeit“ (GS4). Berührungsangst vor der Moderne darf es da nicht geben. Das Evangelium mit der heutigen Kultur zusammenzubringen, das hat Papst Paul VI. schon vor 40 Jahren als drängendes Anliegen benannt (Evangelii nuntiandi 1975). Auch unsere Kultur zeugt von einem „Gottdurst“ (Arnold Stadler). Das Bedürfnis nach religiöser Beheimatung ist nicht einfach verschwunden. Der emeritierte Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz plädiert für die natürliche Gotteskompetenz jedes Menschen jenseits der kirchlichen Vereinnahmung der Gottesrede. Die Frage nach Gott ist für den großen Jesuitentheologen Karl Rahner ein Menschheitsthema. „Nie ist Gott für ihn das Privateigentum der Kirche oder auch der Theologie. Und nicht einmal des Glaubens.“ So schreibt Metz über seinen Lehrer Rahner. Hat die Kirche die Ohren im Wind und nimmt sie auf, was die tiefere Sehnsucht, was der stumme Schrei unserer Zeit wirklich sagt?
Das Christentum lebt von der großen Intuition, dass sich das Göttliche im Menschlichen, genauer gesagt in einem konkreten Menschen zeigt. Dieser Spur werde ich heute Abend folgen; denn für mich als Christ und Jesuit ist Jesus Christus die Antwort auf die Gottesfrage. Ich werde deshalb zunächst die Rückfrage stellen: Wie hat Jesus von Nazareth von Gott geredet?
Der Gottessohn war ganz Mensch. Er hat den Glauben in einer bestimmten Tradition gelernt. Deshalb lautet meine nächste Frage: Wie redet die hebräische Bibel von Gott? Erst nach diesen beiden Rückfragen werde ich Ansatzpunkte, Leitlinien für die Beantwortung unseres heutigen Themas formulieren.
Die Art der Gottesrede Jesu
Jesus hat in kleinen Geschichten, in Gleichnissen von Gott geredet. Die Gleichnisse Jesu sind erzählerisch entfaltete Metaphern (griech., wörtl. Übertragenes: Fachausdruck für verkürzten Vergleich). Metaphern unterscheiden nicht rational zwischen Bildspender und Bildempfänger. Sie sind für beides transparent. Sie sind intuitiv geprägt.
Gleichnisse sind eine Form weisheitlicher Theologie. Weisheitslehre war traditionell Sache der Oberschicht. Jesus wählt mit den Gleichnissen eine allen Menschen, besonders einfachen Menschen, zugängliche Form. Die Gleichnisse Jesu handeln von Gott und von der Beziehung des Menschen zu Gott. Jesus wählt eine offene Art, von Gott zu sprechen. Er will nicht dogmatisch oder gesetzlich vorschreiben, wie man über Gott denken soll. Gleichnisse wollen Impulse geben, immer wieder neu und anders von ihm zu denken. Gleichnisse sind ein dynamisches Sprachereignis, das Existenz verwandeln will. „Auf die Unübersetzbarkeit des Gleichnisses in gewöhnliche Sprache antwortet nur die applicatio (Anwendung) durch die Praxis des Lebens.“ (Paul Ricoeur)
Nehmen wir ein Beispiel, das Gleichnis vom Sauerteig, das bei Matthäus (13,33) und Lukas überliefert ist (13,20f):
„Wem soll ich die Königsherrschaft Gottes vergleichen? Gleich ist sie Sauerteig, den eine Frau – indem sie ihn nahm – verbarg in drei Maß Weizenmehl, bis durchsäuert ist alles.“
Es ist eine Frauen- und Alltagsgeschichte. Die Hausfrau nahm den Sauerteig vom alten Teig, kaufte ihn oder setzte ihn selbst an, um damit Brot zu backen. Drei Maß (Seat) entsprechen fast 40 Litern, was für eine Mahlzeit von über 150 Personen oder für etwa 50 kg Brot reicht.
Die damaligen Hörerinnen und Hörer müssen überrascht gewesen sein. Sauerteig gehört nicht zu den Metaphern, die einen Bezug zum Gottesreich aufweisen. An verschiedenen Stellen der Schrift gilt Sauerteig als etwas Ansteckendes, Böses. Vor dem Pesachmahl muss er weggeräumt werden. „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer!“ (Mt 16,6), sagt Jesus selbst. Durch die ungewöhnliche Wahl des Sujets weckt Jesus Aufmerksamkeit und schafft Spannung.
Für die Interpretation ist wichtig: Im Mittelpunkt steht das (Hinein-) Verbergen. Der Frau und ihrem Tun kommt eine Nebenrolle zu. Bei Matthäus bekommt das „Verbergen“ noch dadurch Gewicht, dass zwei Verse später festgestellt wird, Jesus verkünde mit seinen Gleichnissen, „was seit der Schöpfung verborgen war“. Jesus konterkariert hier einen alltäglichen Vorgang. Die Teigbereitung, das Wasser, das Kneten werden völlig ausgeklammert. Er schildert einen einmaligen, scheinbar absurden Umgang mit dem Sauerteig. Dem Gleichniserzähler kommt es darauf an, dass der Abschluss der Durchsäuerung unabsehbar ist. Allein die Menge – eine Mahlzeit für 150 Personen! - ist für alltägliches Backen ungewöhnlich. Auf die „dynamische“ Durchsäuerung von innen her und im Verborgenen kommt es Jesus an.
Wie hat er hier von Gott geredet? In einem Bild, das besagt: Gott steht hinter dieser dynamischen, verborgenen Kraft aus der Tiefe. Man muss diese Urkraft sich nur entfalten lassen. Sie ist unverwüstlich wie Sauerteig. Jesus verortet das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, den alles umfassenden Gott mitten im Alltäglichen. Er ermutigt einfache Menschen, der göttlichen Urkraft aus der Tiefe zu vertrauen und dadurch sich selbst etwas zuzutrauen.
Eine kleine Zwischenbemerkung: Vielleicht wäre eine neue Formel für Glauben heute: Leben aus der Tiefe, leben von den innersten Impulsen her.
Zurück zu Jesus: Er redet von Gott in Metaphern und beherzigt durch die Überfülle seiner Bilder ein Urverbot seiner Bibel: „Du sollst Dir kein Bildnis machen.“ (Ex 20,4) Vom Gott Israels darf es kein bestimmtes Kultbild geben. Er kann überhaupt nicht durch Bilder um-grenzt, eingegrenzt, de-finiert werden.
Auch das wäre heute zu bedenken: Keine Religion „hat“ Gott. Er ist und bleibt auch in einer Offenbarungsreligion wie dem Christentum dynamisches Geheimnis. Er ist in allem gegenwärtig, gerade auch im Banalen und Alltäglichen. Und doch ist er als Schöpfer das unfassbare Gegenüber alles Weltlichen: Er ist „in-über“, verbunden mit seiner Welt, gegenwärtig in ihr und gleichzeitig steht er der Welt gegenüber, ist transzendent. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, so hat einer formuliert, der seine hebräische Bibel kannte, der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber.
Gott fällt unter keinen Begriff, Gott ist anders, deshalb gilt bis heute: Wir müssen wie Jesus in Bildern von ihm sprechen, in Metaphern, die das Geheimnis Gottes umkreisen und die, wie Paul Ricoer sagte, „in die Praxis unseres Lebens“ übersetzt werden müssen. Rede von Gott ist Weisheitslehre, will Lebenswissen erschließen, Lebenserfahrungen deuten und zu überraschend neuen Erfahrungen führen.
Ist die Sehnsucht nach „Weisheit“ nicht bis heute die Spiritualität des Menschen? Zugang zu dieser Weisheit gelingt nur in einer Art Tiefenbohrung. In unserer jesuitischen Tradition sind das die Exerzitien, eine Zeit der Stille und des Gebets, in der man sich als einzelner Gott stellt.
Jesus sagt mit seinem Sauerteiggleichnis: Das dynamische Geheimnis Gottes will im Menschen die trockene Banalität des Alltagsmehls verwandeln, will die kreativen Kräfte des Menschen wecken, will das Leben schmackhaft machen. Diese geheimnisvolle Kraft lässt den Menschen ahnen, dass er selbst ein Geheimnis ist.
Typisch für Jesus ist: Er erzählt seine Gottesgeschichten „mit Vollmacht“, das heißt: mit der ungeheuer überzeugenden und polarisierenden Wucht eines intimen Wissens um Gott. Aus ihm spricht die Kraft göttlicher Weisheit.
Gott, die überraschende, geheimnisvolle Kraft aus der Tiefe. Ob nicht auch heute solche Geschichten zu erzählen wären? Nicht nur kirchlich-fromme, sondern provozierende Geschichten aus Kunst und Kultur, aus Wissenschaft und Wirtschaft, Geschichten vom Alltag und von der Liebe, Geschichten aus der Natur und von Menschen, die mit dieser Kraft aus der Tiefe leben, die Schweres bewältigen und Schönes noch mehr genießen können. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Diese Maxime und Einladung steckt in den Gleichnissen, in der Gottesrede Jesu.
Die spezifisch jüdische Art der Gottesrede
Die Propheten Israels kritisieren immer wieder die selbstgemachten Götter, Götzen genannt. Der Gott Israels, von dem man kein Kultbild machen durfte, kann nicht in eine Reihe gestellt werden mit Göttern, die weltliche Herrschaft repräsentieren. Jede Präsentations- und Repräsentationsmöglichkeit des Göttlichen wird in Israel prinzipiell infrage gestellt. „Gott gebrauchen, heißt ihn töten“, hat der große Mystiker und Theologe Meister Eckhart einmal prägnant formuliert. Der transzendente Gott lässt sich nicht für menschliche Interessen vereinnahmen. Und wie oft wurde in der Religionsgeschichte Gott benutzt und eingespannt für ganz handfeste Eigeninteressen. Im Grunde ist dieser so fromme Gestus der größte Sündenfall. Der Mensch setzt sich selbst an die Stelle Gottes, lässt Gott, das unbegreifliche Geheimnis, nicht mehr Gott sein. Der Gott der hebräischen Bibel „ist weder Sein noch Nichtsein, sondern Möglichsein. Gott ist ein Gott der Verheißung ...“ (Richard Kearney).
Dem Mose offenbart Gott aus dem Dornbusch seinen Namen. Dieser Name ist sprachlich eine Leerstelle. All die Titel wie „Herr“, „Richter“, „Schöpfer“ greifen zu kurz. Gott stellt sich in ganz eigener Weise als der Anwesende, der „Ich-bin-da“ vor, noch genauer, als Gott, der „für euch“ da ist und noch präziser, als der, der sich als Daseiender zeigen und erweisen wird. (Ex 3,14) „Ich werde dasein, als der ich dasein werde“ (M. Buber) „Ich bin da als der/die ich da sein werde“ (E. Zenger) Dieser Name ist eigentlich kein Name. Er ist eine freundliche Zusage, eine Verheißung und Ermutigung. Er ist ursprünglich auf das Exodusgeschehen, den Ausbruch aus dem Sklavenhaus Ägypten, bezogen. Doch dieses Ur-Erlebnis wird im Glauben Israels universalisiert. Überall dort, wo wahrhaft befreiende Erfahrungen gemacht werden, wird die Wirklichkeit des „Ich bin da“ erfahrbar.
Nehmen wir unsere deutsche Sprache beim Wort: Realität und Faktizität wird durch die Gottesbeziehung zur Wirk-lichkeit. Der Möglichkeitssinn des Realen wird geweckt und entfaltet. In jeder Realität steckt immer auch Potentialität, stecken verborgene Möglichkeiten. Die Grundhaltung biblischen Gottesglaubens ist deshalb die Hoffnung: sich auf den Weg machen aufgrund einer Verheißung, eines Lebenstraums, einer Zusage. Urbild dafür ist Abraham.
„Hoffnung“ hat Sören Kierkegaard einmal bündig umschrieben mit „Leiden am Wirklichen und Leidenschaft für das Mögliche“. Das jüdische Volk, ein kleines, meist unterdrücktes Volk, eingekeilt zwischen den damaligen Großmächten, hat in tastender Gottesrede gelernt, die Katastrophen der Geschichte, die Abgründe der Nicht-Erfahrbarkeit Gottes zu bestehen und hat gleichzeitig die ungeheure Freiheit und Beheimatung bei einem Gott erfahren, der alle Wege mitgeht.
Das große Geheimnis Israels liegt darin, dass die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung an ein geheimnisvolles „Du“ gerichtet wird. Die Psalmen mit ihrer Klage und Anklage, ihren Bitten, ihrem Dank und Lobpreis sind dafür das sprechendste Beispiel. Erich Fromm schreibt: „Der Psalm ist ein Dokument des Sieges der Hoffnung über die Verzweiflung. Auch dokumentiert er die wichtige Tatsache, dass ein angsterfüllter, verzweifelter Mensch erst dann ‚umkehren’ und sich von seiner Verzweiflung befreien und zur Hoffnung gelangen kann, wenn er zuvor die ganze Tiefe der Verzweiflung durchlebt hat. Solange man den tiefsten Abgrund der Verzweiflung nicht erfahren hat, kann man sie nicht wirklich überwinden.“ Die hebräische Bibel nennt das Buch der Psalmen kurz „Preisungen“, und das, obwohl die Hauptmasse Klage- und Bittgebete sind. Ihr mystisches Geheimnis liegt in dem inneren Verwandlungsprozess von der drohenden Verzweiflung hin zum uneingeschränkten Lob Gottes. Die Psalmen lehren uns: Von Gott können wir nur existentiell reden, ausgehend von der ganzen Bandbreite menschlicher Erfahrung.
In dieser Glaubenstradition ist Jesus aufgewachsen, darin war er verwurzelt. Gott, den er mit dem vertrauten und hoheitsvollen Namen „Abba“ anredete, war sein Ein-und-Alles. Auf ihn setzte er seine Hoffnung, selbst im Schrei der Gottverlassenheit.
Das Lied „Du“, das Martin Buber aus dem osteuropäischen Judentum in den chassidischen Geschichten überliefert hat, fasst die spezifische Gottesrede Israels zusammen:
Wo ich gehe –du!
Wo ich stehe –du!
Nur du, wieder du, immer du!
Du, du, du!
Ergeht’s mir gut –du!
Wenn’s weh mir tut –du!
Nur du, wieder du, immer du!
Du, du, du!
Himmel –du, Erde –du,
Oben –du, unten –du,
Wohin ich mich wende, an jedem Ende
Nur du, wieder du, immer du!
Du, du, du!
Ansatzpunkte einer heutigen Rede von Gott
Welche Ansatzpunkte legen sich heute in unserer Kultur für die Rede von Gott nahe? Ich erinnere an einen Satz, der vorhin schon gefallen ist: Das Christentum lebt von der großen Intuition, dass sich das Göttliche im Menschlichen zeigt.
Damit sind wir auf einer Fährte, die anschlussfähig ist an die Moderne. Die Würde, ja die Sakralität der menschlichen Person ist wie ein geheimes Wasserzeichen der Moderne. Eine Glaubenssprache, die daran Maß nimmt, muss auch die Abgründigkeit menschlicher Existenz ernst nehmen, die Fragen nach Sünde, Schuld, Ungerechtigkeit, Leid und Tod, aber auch die Sehnsucht nach Glück, nach Vollendung. Hoffnung als „Leiden am Wirklichen und Leidenschaft für das Mögliche“ ist gerade heute gefragt. Menschen suchen nach authentischem Menschsein, durch alle Lebensbrüche hindurch. Nur der mystische Weg der Suche nach wahrem Menschsein wird in eine neue spirituelle Weltkultur führen. Das ist meine Überzeugung.
Wir haben dafür im Johannesevangelium eine wunderbare Symbolgeschichte: die Begegnung Jesu mit der Samariterin (Joh 4). Jesus, selbst durstig, spricht, was völlig ungewöhnlich ist, eine Frau an, die zum Brunnen kommt, um Wasser zu schöpfen. Der jüdische Rabbi überspringt gesellschaftliche Gepflogenheiten und religiöse Grenzen, bittet um Wasser, zeigt damit seine eigene Bedürftigkeit und deutet gleichzeitig an, dass er ein geheimnisvolles Lebenswasser schenken kann. Die Frau will dieses magische Lebenswasser haben. Dann wäre sie künftig von aller Mühe des Wasserschleppens befreit. An diesem Punkt fragt Jesus sie nach ihrem Mann. Er geht auf die existentielle Ebene, er steigt in der Bedürfnispyramide einen Stock höher. Er kann der Frau – offen und ohne alle Vorwürfe – ihre vertrackte Lebenssituation spiegeln. Fünf Männer hat sie gehabt und der, den sie jetzt hat, ist nicht ihr Mann. Die Frau spürt, dass hier einer sitzt, der sie mit ihren Lebensbrüchen konfrontiert und sie dabei versteht und annimmt. Deshalb geht sie einen Schritt weiter und steuert im Gespräch jetzt die spirituelle Ebene an: Wo und wie gilt es, recht zu beten? Sie eröffnet diesem Fremden, dass die Sehnsucht nach dem Messias in ihr lebt. Jesus kann sich daraufhin ihr gegenüber öffnen. In diesem intimen Gespräch tut er etwas, was er sonst vermeidet: Er outet sich als Messias und das mit dem Gottesnamen „Ich bin es“. Die Frau lässt alles stehen und liegen, rennt in ihr Dorf und muss von dem künden, was sie erlebt hat. „Er hat mir alles über mich gesagt. Ist er vielleicht der Messias?“ (Joh 4,29)
Diese Geschichte ist therapeutisch und mystagogisch, zum Lebensgeheimnis hinführend, im besten Sinn. Sie zeigt exemplarisch, wie Gottesrede aus menschlicher Begegnung, existentiell-spiritueller Vertiefung und freigebender Kunde erwächst. Eine Frau, die sich von Grund auf neu verstanden und angenommen fühlt, lädt andere fragend und werbend ein. „Ist er vielleicht der Messias?“ Sie ist ergriffen von dem, was sie unbedingt angeht und gibt diese persönliche Betroffenheit unaufdringlich weiter. So wäre vom Glauben an Gott zu reden: ganz menschlich und göttlich zugleich und vor allem: frei, einladend, hinweisend auf eine Wirklichkeit, die jeden angeht.
Ich denke, die Faszination von Papst Franziskus liegt vor allem darin, dass viele in ihm einen Kirchenmann erleben, dem es um den Menschen geht. Er lädt ein, vor aller dogmatischen Lehre, vor allen moralischen Schemata den konkreten Menschen anzuschauen. Er bekennt von sich selber: „Ich bin ein Sünder, den Gott angeschaut hat.“ Der zentrale Effekt des Glaubens, ist, psychologisch gesprochen, die Selbstbejahung. Aus tiefer Selbstbejahung erwachsen alle wahrhaft christlichen Haltungen. Weil Gott mich mit Liebe anschaut und annimmt, kann ich mich selbst, kann ich den anderen Menschen annehmen. Ich kann dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt (Alfred Delp). Christentum ist radikaler Humanismus, ist Liebe, die aus der Wurzel und dem Geheimnis der Wirklichkeit erwächst. Diese geheimnisvolle Wurzel ist mit dem kürzesten und schönsten christlichen Glaubensbekenntnis benannt, das im ersten Johannesbrief steht: „Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ (1Joh 4,16)
Ein zweiter Ansatzpunkt: Wir leben in einer Waren- und Konsumwelt, oft bestimmt von einer globalisierten Oberflächlichkeit. Augenfälliges, Nebensächliches, Schreckliches und Glamouröses wird in unserer medialen Welt zum kurzlebigen Hype. Der surfende Zeitgeist hüpft von einer Belanglosigkeit zur anderen. Was unsere Zeit braucht, ist eine neue Art der Begegnung mit dem Heiligen. Das klingt ganz unmodern. Die Rede vom Heiligen ist längst durch die moderne Waren- und Konsumwelt vereinnahmt.
Goethe hat viel von dieser modernen Entzauberung der Welt geahnt. Sein Faust ist ein Suchender. Er sucht im zweiten Teil das Urbild menschlicher Schönheit, Helena. Er kommt dabei zum Orakel nach Delphi. Da fallen die Worte: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.“ Wir Menschen suchen nicht bloß die schnelle Erregung, den Hype, das aufgeputschte Gefühl, sondern das tiefe Ergriffensein. „...wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure“ , so heißt es in der Szene weiter. (Faust 2, I, Finstere Galerie)
Der Religionsphilosoph Rudolf Otto (1869 – 1937) hat das Heilige als „Mysterium tremendum et fascinosum“, als schaudererregendes und faszinierendes Geheimnis umrissen. In Erlebnissen der Sammlung, des Hingerissenseins, der Andacht, zB in der Natur, in Begegnungen, an Grenzen und Abgründen des Lebens oder vor einem neugeborenen Kind - da verschlägt es uns letztlich die Sprache. Uns überkommt ein geheimnisvolles Erschauern, ein inneres Berührtsein, manchmal ein Zittern. Viele Geschichten der Bibel erzählen von diesem Erleben. Die Unmenge an religiösen Bildern will dieses Gefühl für das Unsagbare, Befremdende umkreisen. Erst im Nachhinein wird dieses Erleben mit dem Gottesgedanken verbunden.
Im frommen Erschauern geht es um ein Gefühl, welches das Göttliche im Weltlichen, das Unendliche im Endlichen erahnen lässt – und dem Menschen nicht einfach zur Verfügung steht. Gott zeigt sich als unverfügbares Geheimnis. Das, was die Bibel „Gottesfurcht“ nennt, hat nichts mit gewöhnlicher Angst zu tun, es ist die unterste beschreibbare und empirisch greifbare Stufe religiösen Erlebens. Das göttliche Mysterium im Gefühl der Menschen aufscheinen zu lassen, das wäre die für heute adäquate Bildrede von Gott.
Das Urgefühl der Geborgenheit in einem rätselhaften Universum, das Aufgehobensein unserer natürlichen Welt in einem größeren Horizont, das sollte religiöse Rede stammelnd und stotternd und – manchmal - sich überschlagend und überschwänglich zum Ausdruck bringen.
Lassen Sie mich den dritten, vielleicht wichtigsten Ansatzpunkt heutiger Gottesrede nennen: Die wichtigste Frage ist nicht „Wie heute über Gott reden“, sondern „Wie heute zu Gott reden“. Johann Baptist Metz hat in seiner Abschiedsvorlesung den Sachverhalt auf den Punkt gebracht: „Woher stammt die Gottesrede, worin gründet sie? Etwa in der Sprache versiegender Traditionen? In der Sprache der Bücher oder doch des Buches aller Bücher? In der Sprache der Dogmen oder anderer kirchlicher Institutionen? In der Bildersprache unserer literarischen Fiktionen? In der Rätselsprache unserer Träume? Die Rede von Gott stammt allemal aus der Rede zu Gott, die Theologie aus der Sprache der Gebete. ...
(Doch) täuschen wir uns nicht: die Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Haben wir je wahrgenommen, was sich in der Sprache der Gebete durch Jahrtausende der Religionsgeschichte angehäuft hat ...: das Geschrei und der Jubel, die Klage und der Gesang, der Zweifel und die Trauer und das schließliche Verstummen? Haben wir uns vielleicht zu sehr an der kirchlich und liturgisch gezähmten Gebetssprache orientiert, von zu einseitigen Beispielen aus der biblischen Tradition uns genährt? Was ist mit Hiobs Klage Wie lange noch?, mit Jakobs Ringen mit dem Engel, mit dem Verlassenheitsschrei des Sohnes und dem Maranatha als letztem Wort des Neuen Testaments?
Diese Sprache ist viel widerstandsfähiger, viel weniger geschmeidig und anpassungsbereit, viel weniger vergesslich als die platonische oder idealistische Sprache, in der die Theologie sich um ihre Modernitätsverträglichkeit bemüht und mit der sie ihre Verblüffungsfestigkeit gegenüber allen Katastrophen und allen Erfahrungen der Nichtidentität probt.“
Als suchender moderner Mensch von Jesus das Beten zu lernen, sich in die großen Gebetsanliegen Jesu hineinzubeten, das ist für mich der Königsweg von Gottesrede bis heute. Bundtagspräsident Norbert Lammert hat das Gebet Jesu seinem inneren Sinn gemäß modifiziert und folgendermaßen formuliert:
Unser Vater im Himmel,
groß ist dein Name und heilig.
Dein Reich kommt,
wenn dein Wille geschieht,
auch auf Erden.
Gib uns das, was wir brauchen.
Vergib uns, wenn wir Böses tun
und Gutes unterlassen;
so wie auch wir denen verzeihen wollen,
die an uns schuldig geworden sind.
Und mach uns frei, wenn es Zeit ist,
von den Übeln der Welt.
Lassen Sie mich einen letzten Ansatzpunkt nennen, der das Reden noch einmal übersteigt, einen Ansatzpunkt, der Menschen verschiedener Religionen, der Religiöse und Nichtreligiöse zusammenführen könnte, einen Ansatzpunkt, der gleichzeitig ein tiefes Bedürfnis unserer medial überfluteten Zeit berührt: das Dasein vor dem Geheimnis Gottes, dem Geheimnis des Lebens im Schweigen. Hören wir zum Abschluss einen meditativen Text aus Taizé:
Schweigen (gekürzter Text)
Nicht nur still werden und den Lärm abschalten, der mich umgibt.
Nicht nur entspannen und die Nerven ruhig werden lassen.
Das ist nur Ruhe. Schweigen ist mehr.
Schweigen heißt: mich loslassen –
nur einen winzigen Augenblick – verzichten ...
Nur einen Augenblick DU sagen und Gott da sein lassen.
Nur einen Augenblick sich lieben lassen –
ohne Vorbehalt, ohne Zögern, bedingungslos
und ohne auszuschließen, dass ich nachher brenne.
Das ist Schweigen vor Gott.
Dann ist im Schweigen
Stille
und Reden und Handeln und Hoffen und Lieben zugleich.
Dann ist Schweigen: Empfangen.
(Einige Augenblicke Stille)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
München, 17.11.14
Karl Kern SJ