Der Kreuzestod Jesu - Wie vom Unverständlichen reden?

Impulsvortrag zur Karwoche, St. Michael 16.4.2019

Einstieg:
Das Wort vom Kreuz ist nach Paulus für Juden ein „skandalon“, ein Gegenstand höchster Entrüstung. Für Griechen ist es eine „Dummheit“, ein „Blödsinn“, ein „Widersinn“. (vgl 1 Kor 1,22f) So schreibt er im ersten Korintherbrief und so empfinden bis heute viele Menschen. Eine Stimme unter vielen: „Ich kann mit dem Christentum nichts anfangen. Eine Religion mit einem Folter- und Mordwerkzeug als Erkennungszeichen! Das ist nichts für mich. Für mich muss niemand sterben…!“ Eine Mutter sagt: „Dieses grausige Geschehen am Kreuz kann ich meinem Kind nicht zumuten. Das ist doch Gift für seine Seele!“ Für andere, auch für viele Christen, ist das Kreuz ein Zeichen, an dem man achtlos vorbeigeht, abgestumpft durch seine dauernde Anwesenheit in unserem Kulturkreis. Wieder andere wollen es aus dem öffentlichen Raum entfernen. Es passe nicht mehr in unsere weltanschaulich neutrale Gesellschaft.
Das Kreuz, umstritten, anstößig, unverständlich bis heute oder als reines Kulturgut abgetan.

Eine erste Klarstellung
Für Paulus ist Christus, der Gekreuzigte, „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor1,25). Damit liefert er eine wichtige Weichenstellung: Uns Christen geht es primär und einzig um den Gekreuzigten, nicht um das Kreuz an sich. In ihm, dem gekreuzigten Christus, sehen wir das Zentrum des christlichen Glaubens.
Im schier unverständlichen Kreuzestod, in diesem grausigen, schrecklichen, widersinnigen Martertod liegt ein tiefer Sinn. Göttliche Weisheit soll hier zu finden sein, wie Paulus meint. Dem wollen wir heute Abend ein wenig nachspüren. Aber wie können wir Christen unseren Mitmenschen heute diesen Sinn nahebringen?

Ein seltsames Ereignis
Ich möchte Sie für einen ersten Zugang in das Westfalenstadion nach Dortmund zu einem Bundesligaspiel entführen: Am 13. März 2016 spielte der BVB gegen den FSV Mainz 05 und entschied das Spiel mit 2:0 für sich. Zu Beginn der zweiten Halbzeit stirbt ein Fan auf der Dortmunder Südtribüne an einem Herzinfarkt. Die schlimme Nachricht breitet sich innerhalb weniger Minuten aus. Auf den Rängen plötzlich gespenstische Stille. Auch die Mainzer Fans stellen ihre Anfeuerungsrufe ein. Als das zweite Tor für Dortmund fällt, wird die übliche Tor-Musik nicht gespielt. Auch der Name des Verstorbenen wird nicht ausgerufen. Die „Gelbe Wand“ aus zehntausend Trikots wird zu einer schwarzen Wand der Trauer.
Kurz vor dem Abpfiff erheben sich die 81.000 Zuschauer spontan von ihren Sitzen und stimmen die Kulthymne an: „You’ll never walk alone“ – „Du wirst niemals alleine gehen …“ Alle Spieler stehen Arm in Arm regungslos vor der Südtribüne. Einige haben Tränen in den Augen. Das Fußballspiel gerät zur Nebensache.
Trauer und Respekt vor einem Toten, vor der Erhabenheit des Todes hat urplötzlich ein Stadion verwandelt und in Solidarität vereint. Alles andere ist mit einem Schlag relativ. Der unerwartete Tod eines Menschen lässt selbst im Fußballstadion die große Lebensfrage aufstehen, der sich alle stellen müssen. Wir Menschen sind Rätselwesen in einem noch rätselhafteren Universum. Wir sind als sterbliche Wesen im Grunde eine einzige große Frage nach dem Woher und Wohin. Der Einbruch des Todes stellt alle vor diese Frage, er stellt uns vor eine letzte Wirklichkeit.

Ein Gedicht
Hören wir als zweiten Zugang zu unserer Themafrage ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.

Todes-Erfahrung

Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Hass
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund

tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.

Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so dass wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.

„Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das nicht mit uns teilt“, so der erste Satz. Der Tod ist der große Unbekannte, der als Faktum unser Leben prägt, als unverfügbares Faktum, das jederzeit eintreten kann. Der Tod gibt sein Geheimnis nicht preis. Deshalb, so das Gedicht, haben wir keinen Grund, den Tod zu bewundern oder zu hassen.
Der Ansatz des Gedichts, den Tod zu deuten, ist das maskenartige, erstarrte Gesicht eines Verstorbenen. Das ist dem lyrischen Ich Anstoß und Anlass, unser Leben zu betrachten als ein Spielen von Rollen, von Rollen, in denen wir bei anderen ankommen, gefallen wollen. Dieses Rollenspiel durchbricht und entlarvt der Tod.
Offenbar hat der Tod eines nahen Bekannten den Sprechenden ereilt: Dieser Tod entlarvt das nur gespielte, gefallsüchtige und gemimte Leben und gibt einen Blick auf wirkliches, grünendes Leben frei. Das uneigentliche, entfremdete Leben geht allerdings weiter, doch von ferne mahnt und erinnert der Tod des fernen und immer noch nahen Menschen daran, dass es echtes, wirkliches, erfülltes Leben geben kann.
Der Tod, hier gedeutet als eine Art Mystagoge, der in authentisches Leben führt und so Wirklichkeit eröffnet. In dieser Linie möchte ich heute Abend den Tod Jesu deuten, aber auch den Tod im Stadion aufnehmen, wo alle etwas von der Größe und Erhabenheit des Todes spürten.

Gehen wir voran in Thesenform.

These 1
Der Kreuzestod Jesu stellt der Menschheit die Wahrheit vor Augen.

Jesus vergleicht sich einmal mit einem Spieler, einem Flötenspieler, der zum Höhepunkt jeder Hochzeit, dem Tanz der Männer, aufspielen will; im Unterschied zu Johannes, dem Täufer, der durch seine Bußpredigt zu Trauer und Umkehr aufrief. Doch weder der Trauerzug noch der Hochzeitstanz kommen bei den spielenden Kindern zustande. Seine Zeitgenossen entpuppen sich als große Kinder, die weder Hochzeit noch Trauer tief empfinden und sich auf das Spiel wahren Lebens einlassen können. (Lk 7,31-35) Seine Landsleute bleiben in der Banalität des Alltags und im üblichen Gerangel des Gegeneinander stecken.
Was wollte er durch das Gleichnis von den spielenden Kindern sagen? Er wollte eine neue, überraschend innige Gottesbeziehung seinen Zeitgenossen nahebringen; und scheitert damit in Israel. Seine Botschaft von der Nähe der Gottesherrschaft dringt nicht durch; doch für ihn ist diese Gottesnähe die tiefste Wahrheit seines Lebens.
Für diese seine Wahrheit sammelt er einen kleinen Kreis von Männern und Frauen um sich, die von ihm fasziniert sind, ihn aber auch nur bedingt verstehen. Mit ihnen zieht er nach Jerusalem. Obwohl er die Vernichtungsabsicht der führenden Kreise dort spürt, sucht er die Entscheidung. Er ringt sich innerlich durch zu der Einsicht, dass sein Märtyrertod das letzte, das paradoxe Zeichen der angesagten Gottesnähe ist.
Wir Christen sagen: Jesus hatte ein einzigartiges, intimes Verhältnis zu Gott, den er seinen Abba nannte. Der christliche Glaube hat sein Zentrum darin, dass wir Christen nie von Gott reden können ohne von Jesus zu reden. Er gehört für uns zu Gott selbst. Wenn dieser Jesus in Treue zu seinem Gott in den Tod geht, dann ist das für ihn die letzte, unüberbietbare Wahrheit, für die er mit seinem Leben einsteht.
Diese eine Wahrheit ist wie das eine Licht in verschiedenen Spektralfarben gebrochen: Jesus stirbt nach Markus und Matthäus mit dem Schrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46) Das ist der erste Vers von Psalm 21, der zwar im zweiten Teil mit einem Lobpreis auf den Rettergott endet, doch wollten diese Evangelisten bewusst die harte Klage einspielen, in der sich der Widersinn dieses Todes spiegelt. Der Hebräerbrief sagt es noch drastischer: „Unter lautem Schreien und unter Tränen“ hat der Gottessohn den Gehorsam, das Einverständnis mit dem Willen des Vaters gelernt. (Hebr 5,7) Diese Seite der Einwilligung und Ergebenheit streicht Lukas mit dem letzten Wort Jesu am Kreuz heraus: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23, 46) Jesus kann so sprechen, weil er nach Lukas aus kreatürlicher Todesangst am Ölberg Blut geschwitzt hat und in seiner Not von einem Engel gestärkt wurde. Der Evangelist Johannes sieht mit dem Lebensende Jesu das Werk der Offenbarung des Vaters vor der Welt vollendet. Jesus stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) Er hat seinen Auftrag erfüllt, nämlich den Seinen und der ganzen Welt „den Namen des Vaters“, sein inneres Wesen, „zu offenbaren“ (Joh 17,6). Deshalb kann er im Tod seinen Geist „übergeben“(Joh 19,30), was bedeutet: Er haucht den Lebensatem aus und gibt zugleich dem Vater zurück, er kehrt heim zum Vater. Schließlich übergibt er seinen Geist den Seinen als bleibendes Geschenk, als Inbegriff seiner Nähe.
Die erste These besagt: Wenn die Gottesintuition Jesu stimmt, dann hat er mit seinem Tod ein unüberbietbares Zeichen für seine Lebenswahrheit gesetzt; dann zeigt sich in seinem Tod die Wahrheit über Gott und damit die Wahrheit über die Welt und über jeden Menschen. Der Tod Jesu ist die Wahrheit schlechthin. Ob der Tod einen Menschen im Fußballstadion, auf der Intensivstation oder zuhause im Bett ereilt, immer provoziert dieser Abbruch physischen Lebens die große Frage nach der Wahrheit, nach dem Sinn und Zweck der Welt und des Lebens.

These 2
Im Tod Jesu offenbart sich der Gott Israels in unüberbietbarer Weise.

Jesus lebte, glaubte und starb als frommer Jude. In dem kleinen Volk hatte sich über eine jahrhundertelange Geschichte ein ganz eigenes Gottesbewusstsein und Selbstverständnis herausgebildet. Der Gott Israels, von dem kein Abbild erlaubt war, ist der weltjenseitige, einzige Gott des Himmels und der Erde, der einzelne Menschen, allen voran Abraham und Mose, angesprochen hat. Er hat sich das Volk Israel zu seinem Eigentum erwählt und mit ihm durch alle Katastrophen hindurch eine Hoffnungsgeschichte für die ganze Menschheit eröffnet.
Zwei Begriffe beschreiben die besondere Beziehung: die politische Vorstellung des Bundes, den Gott wie ein souveräner Großkönig seinem kleinen Vasallen anbietet. Er befreit dieses Volk aus der Knechtschaft Ägyptens und aller versklavenden Systeme. Er gibt ihm am Sinai eine neue Lebensordnung. Er verbündet sich mit Israel, damit es vor allen Völkern eine personale, von Vertrauen, Treue und Gerechtigkeit geprägte Gottesbeziehung vorlebt und als Volk von Freien und Gleichen exemplarisch und werbend die Vorhut einer neuen Menschheit ist. Das ist die globale und universale Sicht der hebräischen Bibel, die an manchen Stellen durchaus auch verengte Perspektiven aufweist.
Eine neue, endgültige Phase der Gottesgemeinschaft, die Sammlung und Bekehrung ganz Israels hin zu diesem Gott aller, das war das Lebens- und Herzensanliegen Jesu. Er lebt seine Sendung als Ausfluss und Folge seiner eigenen intimen Gotteserkenntnis. Die personale Nähe zu Gott hatte man neben dem politisch eingefärbten Begriff des Bundes immer schon mit familiären Begriffen, mit intimen Bildern aus der Liebesgeschichte von Mann und Frau umschrieben. Jesus weiß sich gehalten, getragen und geführt von seinem „Abba“, den er als reine, unvoreingenommene Liebe, als zärtlichen Vater schildert. Neben dem männlichen Abba weiß sich Jesus von der göttlichen Weisheit geleitet. Diese weibliche Hintergrundgestalt gibt ihm Mut zur prophetischen Auseinandersetzung bis hin zum tödlichen Konflikt. (Lk 11,46-50) Der männliche Abba hat eher weiblichen Züge: Er erbarmt sich, er verzeiht, er ist in großer Offenheit seinen Kindern zugetan. Die weibliche Weisheit bestärkt ihn in seinen Konflikten, die schließlich mit dem Märtyrertod enden. Jesus verkörpert beide Seiten: die der fordernden, richtenden Weisheit, und die des liebenden Bräutigams, der zur Hochzeit, zu einer neuen, hohen Zeit unüberbietbarer Gottesnähe einlädt.
In Jesus kulminiert die Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk. „Ich bin für dich da, wo immer du bist, allerdings nicht immer so, wie du es dir vorstellst und wünschst, doch immer zu deinem Besten“, so umschreibt Martin Buber den Eigennamen Gottes, der nicht ausgesprochen werden durfte. Gott und seine Liebe waren eingraviert in Jesu Herz, wobei Gottes Liebe auch für ihn bei aller Klarheit auch eine dunkle, undurchdringliche Seite hatte. Die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten, bedeutet für Karl Rahner glauben. Jesus sah, das zeigen seine Gleichnisse, diesen Gott überall am Werk: als einen, der geheimnisvoll da ist und Zukunft eröffnet für den, der die Möglichkeiten ergreift, die ER dem Menschen bietet. Gott ist auf der anderen Seite immer der Unverfügbare, ist und bleibt Geheimnis, dem man sich im Leben und Wirken und im Sterben und Loslassen übereignet.
Dieser Gott Israels, das ist die zweite These, blitzt im Paradox des Kreuzestodes Jesu auf. Der Evangelist Johannes hat das, wie so oft, intuitiv in seiner Bildsprache erfasst: Er zeichnet Jesus als das neue Paschalamm. Im Paschamahl feierte Israel rituell seinen Befreiergott. Jesus stirbt zu dem Zeitpunkt, als die Paschalämmer im Tempel geschlachtet wurden. Er bringt die Befreiung von Sünde und Tod und führt ins ewige Land der Verheißung.

These 3
Im Tod Jesu verdichtet sich sein Leben: Er wird offenbar als Mensch für andere.

Der Kreuzestod Jesu sollte immer als Kulminationspunkt seines Lebens gesehen und gedeutet werden. Die Taufe durch Johannes wird von den Evangelisten wie eine eruptive Initiation geschildert. Von der Tauf an beginnt er junge Leute um sich zu scharen und den Anbruch der Gottesherrschaft in Galiläa zu verkünden. Im Gegensatz zum Täufer betont er stärker die Gnade Gottes, die allen Menschen noch eine Chance und eine Zeit lässt. Für ihn war die grundlegende Wende bereits geschehen. Der Satan war vom Himmel gestürzt und besiegt; (vgl Lk 10,18) das Böse grundlegend überwunden, wenn es sich auch auf der Erde noch austobte. Jesus konfrontiert einfache Menschen mit diesem gegenwärtigen Gott in seinen Gleichnissen. Gott will mit aller Leidenschaft die Armen und Schwachen retten und die Welt verwandeln. Dafür wirbt Jesus um Verbündete, die umkehren zu diesem Gott. Er gibt vor allem Menschen der Unterschicht ein neues Selbstbewusstsein, indem er sie zum Glauben an Gott als Vater und König ermutigt.
Sein Ruf als Heiler und Exorzist verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Seine mutigen Predigten und Zeichenhandlungen, seine Zuwendung zu den Randexistenzen provozieren die religiös tonangebenden Leute in den Dörfern, zumal er junge Männer in ihren besten Jahren aus dem Arbeitsleben und den Familien herauslöst. Er verstärkt die universalen Seiten der jüdischen Tora und erlaubt sich im Einzelfall auch Verstöße gegen das Gesetz des Mose. Seine charismatische Ausstrahlung ist nicht zu bezweifeln. Seine Person umgibt eine geheimnisvolle Aura, die selbst die Allernächsten nicht durchschauen. So einer muss entweder ganz nah mit Gott verbunden oder vom Teufel besessen sein.
In Jerusalem scheint er nach ein- oder zweijährigem Wirken in Galiläa die Entscheidung gesucht zu haben. Er zieht zum Paschafest ins religiöse Zentrum. Seine Kritik am Tempelbetrieb hat ihn vermutlich das Leben gekostet, denn seine Hinrichtung geschieht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion als „kurzer Prozess“, eingefädelt von der Tempelaristokratie und mithilfe der römischen Besatzungsmacht durchgezogen. Als politischer Unruhestifter wurde er zusammen mit zwei Banditen gekreuzigt.

Um einer gefährlichen, einseitigen Fokussierung auf die Erlösung durch das Kreuz zu entgehen, müssen wir immer wieder betonen: Jesus hat durch sein Leben als Ganzes, das eben kurz skizziert wurde, die Welt erlöst, vom harten Stein des Futtertrogs bei der Geburt bis zum harten Holz des Kreuzes.
Im Symbol des Mahles konnte Jesus sinnenfällig zeigen, worauf es ihm ankam. Schon in Galiläa lebte er Mahlgemeinschaft, gelöste Mahlgemeinschaft mit Gott und untereinander mit ihm als dem Gastgeber. Darin sollte die „Gottesherrschaft“, die Nähe Gottes mit allen Sinnen erfahrbar werden. Ein Freundschaftsmahl wählt er deshalb als Inbegriff seines Lebensanliegens: Menschen untereinander, mit ihm und mit Gott zu vereinen. „Das bin ich“, dieser Deutesatz beim Brechen des Brotes bringt sein ganzes Leben auf den Punkt: Er sieht sich als Mensch für andere, der in seiner Pro-Existenz bis zum Letzten, zur Hingabe seines Lebens geht. Im Weinritus deutet er ebenfalls die Hingabe bis in den Tod und setzt zugleich ein Zeichen der Hoffnung, dass er von der Frucht des Weinstocks neu trinken werde im Reich des Vaters (Lk 22, 18) Deshalb ist bis heute das eucharistische Mahl „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“, wie es das letzte Konzil formulierte (Lumen Gentium 11).

These 4
Der Tod am Kreuz ist nur zusammen mit seiner Auferstehung zu verstehen.

Auf dem Höhepunkt der heiligen Messe bekennt die Gemeinde: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Diese Akklamation bekundet das unlösbare Mit- und Ineinander von Kreuz und Auferstehung. Ohne die Auferstehung wäre Jesus einer von vielen Unschuldigen, die Opfer von Gewalt und Intrige wurden – und er wäre längst vergessen. Das Licht von Ostern ist das umfassende Integral von Jesu Leben und Sterben. Die Evangelien, die Schilderungen des historischen Jesus sind allesamt im Licht von Ostern entstanden.
„Er hat sich gezeigt“, „Er ist erschienen“, das sind die frühestens Formeln der Auferstehungserfahrung. Die ersten Zeuginnen und Zeugen reden von einem unerwarteten Widerfahrnis in der Sprache der hebräischen Bibel: Sie deuten ein optisches Phänomen an und meinen damit die Wucht einer Gotteserfahrung. Die Erfahrung, dem Auferstandenen begegnet zu sein, ist so etwas wie die Urexplosion des Christentums. Immer wieder wird betont: Es ist der Gekreuzigte, der sich uns als Auferstandener in göttlichem Glanz gezeigt hat. Nicht das leere Grab, sondern die Wiederbegegnung mit Jesus ist das Grunddatum für die ersten Zeuginnen und Zeugen.
Die Auferstehungserfahrung der ersten Zeugen ist das Fundament des Glaubens, doch nachfolgende Generationen müssen aufgrund der Botschaft von Tod und Auferstehung – das bedeutet bei Paulus „Evangelium“ – zum Glauben kommen. Diese Auferstehungserfahrungen werden in die späteren Auferstehungsgeschichten hinein verwoben: als Erinnerungsarbeit an den Lebenden, als Mahlgemeinschaft, als tieferes Verständnis der hebräischen Bibel, als erlebte Befreiung und Rettung von den Todesmächten. Das Grundzeugnis der ersten Zeuginnen und Zeugen kann nicht einfach wiederholt, aber es kann im eigenen Erfahrungsraum bestätigend erlebt werden. Denn das, was Auferstehung meint, übersteigt auch die begrenzte Erfahrung der Erstzeugen.
Die Auferstehung Jesu ist nämlich ein universal-kosmisches Ereignis, das alle geschichtlichen und innerweltlichen Kategorien sprengt. Auferstehung lässt die neue, kommende, die erlöste Welt Gottes aufblitzen. Der erhöhte Herr ist vorangegangen zum Vater als Erster der Auferstandenen und will die Menschheit auf diesem Pfad des Lichtes mitreißen.
Für Reinhold Stecher (gest. 2013), Altbischof von Innsbruck, hat „die große Auferstehung am Ende der Tage viele Präludien. Zugegeben, es sind nur vorbeihuschende Lichtpunkte in der Dunkelheit; aber wir sollten diese Lichtpunkte zu einer Reflektorenreihe ordnen, die am Straßenrand aufblitzt und hinführt zur großen Verheißung.“ In der Rückschau sieht Stecher, wie sich das Leben eines jeden Menschen, einem Pfad gleich, dahin schlängelt, in einem Gelände mit Tälern, Hügeln und Bergen, in Dunkelheit und Licht, durch Wetterzonen mit Regen und Sonnenschein. Wenn man die aufblitzenden Lichtpunkte zusammenreiht, ergibt sich ein Weg der Hoffnung, einer Hoffnung, die sich aus Gegenwartserfahrungen speist und die einmünden wird in ewiges Leben: Die kleinen Verwandlungen im Alltag streben der großen Verwandlung der Welt zu.
Immer geht es in unserem Leben um Auferstehung „mitten am Tag“, wie es in einem Gedicht von Marie Luise Kaschnitz heißt. Die täglichen Auferstehungserfahrungen haben ihren tiefsten Grund in der Auferstehung Jesu. Nicht von ungefähr nennt Paulus als Grundbotschaft, die auch er übernommen hat: „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäß der Schrift, und dass er begraben wurde, und dass er auferstanden ist am dritten Tag gemäß der Schrift.“ (1 Kor 15, 3.4)

These 5
Im Kreuzestod Jesu wird die ganze Wucht der Gottferne offenbar.

Paulus deutet den Kreuzestod Jesu in 2 Kor 5,21 mit einer zugespitzten, provozierenden Formulierung: „Gott hat ihn zur Sünde gemacht.“ Das besagt: An ihm, dem Gottverbundenen, dem Sündelosen hat sich die ganze Macht der Sünde ausgetobt. Er wurde freiwillig zum Sündenbock.
Es ist eine schlichte und schreckliche Wirklichkeitsbeschreibung: Im Menschen wohnen oft unter einer schmalen Decke von Humanität Lüge, Gewalttätigkeit, Missgunst, Hass, Neid, gespeist von Egoismus, Gleichgültigkeit, Verlorenheit und Angst. Die religiöse Sprache sagt: Das alles ist Ausdruck von Sünde, wörtlich von „Absonderung“ von Gott, dem Urquell des Lebens.
In dieser existentiellen Not und Ausweglosigkeit kommt Gott in Christus dem Menschen zu Hilfe. In der theologischen Terminologie taucht hier das missverständliche Wort „Sühne“ auf. Das biblische Wort „kipper“ meint Sühne schaffen, Versöhnung erwirken. Sühne will heilen und Heil bringen. Sie ist kein Strafakt wie in der säkularen Sprache. Das wäre in biblischer Perspektive völlig daneben. „Gott war in Christus, als er die Welt mit sich versöhnte“ (2 Kor 5,19), das ist die Frohe Botschaft des Kreuzes. Das Heil Gottes, seine ausgestreckte Hand reichen bis in die äußerste Ausweglosigkeit, Verstiegenheit und Verlorenheit des Menschen. Das ist das Geheimnis des Karsamstag. Der Glaubensartikel vom Abstieg Jesu „in die Hölle“, in die Unterwelt, ins „Reich der Toten“, wie wir heute beten, deutet auf dieses Grunddatum unseres Glaubens hin: Christus neigt sich den Allerverlorensten zu.
Unter dem Kreuz wird oft der Schädel Adams dargestellt. In den Ikonen der Ostkirche zerbricht der Auferstandene die Pforten der Unterwelt und reicht Adam, dem Inbegriff des sterblichen Menschen, die Hand. Christus, der Anführer und Vollender des Glaubens, holt Adam aus dem Tod und reißt den ersten Menschen mit in sein unzerstörbares Leben. Für die Ostkirche ist dieses Motiv die Darstellung der Auferstehungswirklichkeit schlechthin.
Jesus geht stellvertretend für alle Menschen seinen Weg ans Kreuz: Leben nicht auf Kosten von anderen, sondern Leben als Einstehen für andere, ist das Grundgesetz von Leben schlechthin. Das ist der Sinn des „stellvertretenden Opfertodes Jesu zur Sühne der Sünden“. Hier lebt einer mitten in der äußersten Dunkelheit und Perversion von Menschensein etwas vor, was alle angeht. So durchbricht und beendet er die grausamen Opferriten, die die Religionsgeschichte und die Weltgeschichte durchziehen.
So wie der Herzinfarkt im Westfalenstadion zu Dortmund alle berührt und getroffen hat, so sollte im Sinne Gottes das stellvertretende Sterben Jesu allen Menschen die grenzenlose Liebe Gottes vor Augen führen. In äußerster Zuspitzung haben das die Märtyrer in der Nachfolge Jesu vorgelebt. Man denke nur an Maximilian Kolbe, der am 29. Juli 1941 als Franziskanerpater für den Familienvater Franciszek Gajowniczek in den Hungerbunker geht. Ein Mensch steht für einen anderen ein, obwohl es für ihn den Tod bedeutet. „Stellvertretung“ ist für Dietrich Bonhoeffer „der zentralste Inhalt des christlichen Glaubens“. Jesus übernimmt mit seinem Tod die Gottesferne der Menschen. Er verzeiht seinen spottenden oder verzweifelten Feinden. Er trägt sie und ihre Lebenslast zu Gott.

These 6
Im Kreuzestod Jesu wird der Glanz göttlicher Liebe sichtbar.

Die Geschichte Gottes mit Israel ist eine Liebesgeschichte. Gott offenbart sich am Sinai als „gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte“ (Ex 34, 6). Gott steht treu zu seinem untreuen Volk. Die Geschichte Jesu ist in der Sicht des Neuen Testaments, das von gläubigen Juden stammt, die Vollendung, der Höhepunkt der Liebesgeschichte Gottes. „Am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens.“ (Hebr 1,2.3) So sieht es der Hebräerbrief, so sehen es alle Evangelien.
Machen wir einmal das Gedankenexperiment: Jesus wäre nach langem Krankenlager in hohem Alter gestorben, umgeben von einigen Vertrauten. Auch dann wäre infolge der Menschwerdung des Gottessohnes die Welt erlöst. Wäre dann aber auch die ganze Wucht und Größe, die ganze Tiefe und Unergründlichkeit der Liebe Gottes offenbar geworden? Der Schandpfahl des Kreuzes enthüllt in paradoxer Weise, dass Gottes Liebe keine Grenzen kennt. Das Kreuz ist bleibendes Symbol der Treue, der Liebe Gottes.
Damit wird auch deutlich: Nicht das Kreuz als Kreuz ist das Zentrum des Christlichen, sondern die Selbstmitteilung Gottes, der sich im Kreuz als grenzenlos Liebe offenbart. Das Kreuz deckt den Egoismus, die Selbstbezogenheit, die Gewaltbereitschaft, kurz, die Sünde auf, und ist in diesem Sinn auch Protest gegen die Mächte dieser Welt. Zugleich blitzt am Kreuz die Sonne der Gerechtigkeit, die alles überstrahlende Liebe Gottes auf.
In der johanneischen Schule entstand der unnachahmliche Glaubenssatz, der, von der Jesusgeschichte inspiriert, den ganzen biblischen Glauben zusammenfasst: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ (1 Joh 4,16)

These 7
Der Tod Jesu befreit von der Angst um uns selbst.

Für diejenigen, die bereit sind, an diese einzigartige Liebesgeschichte zu glauben, wird der Gekreuzigte zum Ort, wo er der unergründlichen Liebe Gottes begegnet. Schon die geöffnete Seitenwunde als Symbol der Hingabe Jesu bis zum letzten war für den Lieblingsjünger Anschauung genug, um von der Wahrheit des Glaubens überzeugt zu sein (Joh 19, 33-37). Für ihn bräuchte es gar keine Erscheinungen mehr. Ein Blick in das leere Grab, auf die Leinentücher und das Schweißtuch, das die Erinnerung an das Antlitz Jesu weckt, dieser Blick genügt: „Er sah und glaubte.“ (Joh 20, 8)
Gottes Liebe hatte sich in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferweckten, so überzeugend, so bezwingend und einladend geoffenbart, dass den Menschen ins Herz geschrieben sein müsste: Von dieser Liebe kann uns nichts mehr trennen.
Die ersten Gemeinden haben diese zentrale Wahrheit, diese Mitte des Christlichen, gefeiert und in Hymnen besungen. Wählen wir einige Sätze aus dem Römerbrief, die von diesem befreienden Lebensgefühl Zeugnis ablegen: „Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns? Er, der seinen eigenen Sohn nicht für sich zurück-behalten, sondern ihn für uns alle her-gegeben hat, wie wird er nicht erst recht mit ihm uns das das alles (28ff Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, Gott immer zu Gutem verhilft …die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.) geschenkt haben. Wer kann Klage erheben gegen solche, die Gott auserwählt hat? Ist Gott derjenige, der gerecht macht, wer ist es dann, der verurteilt? …
Wer könnte uns da trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Angst, Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? … Ich bin nämlich überzeugt, dass weder Tod noch Leben, noch Engel noch Herrschaften, noch Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, noch Mächte, noch Höhe noch Tiefe, noch ein anderes Geschöpf uns trennen und wegreißen kann von der Liebe, die Gott zu uns hat in Christus Jesus unserem Herrn.“ (Röm 8, 31-33.35.38-39)

These 8
Der Tod Jesu ermutigt zum Leben der Hingabe.

Aus dieser inneren Befreiung heraus wird christliches Leben zur „Nachfolge“, Nachfolge des Sohnes, der die rettende Liebesmacht Gottes als Mensch unter Menschen verkörperte, der angesichts der Freude, die vor ihm lag, selbst die letzte Hingabe am Kreuz nicht gescheut hat, wie es der Hebräerbrief ausdrückt (Hebr 12,2). Bei aller Erwählungs-Euphorie, die Paulus in seinen Gemeinden einpflanzte, bleibt der Apostel doch ganz nüchtern und geerdet. Im ältesten Brief, den wir von ihm haben, im Brief an die Christengemeinde von Thessaloniki, schreibt er am Anfang: „Wir danken Gott jedes Mal, wenn wir für euch alle bei unseren Gebeten ein Gedenken halten. Dabei denken wir ständig an eure Anstrengung des Trauens, an die Mühe eurer Liebe und an eure Ausdauer der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus im Angesicht unseres Gottes und Vaters. Dabei sind wir uns bewusst, von Gott geliebte Brüder, dass ihr erwählt seid.“ (1 Thes 1,2-4)
Das aus der Seitenwunde Jesu austretende Wasser und Blut wurde schon von den Kirchenvätern auf die beiden Grundsakramente hin gedeutet: Durch das Wasser der Taufe und durch das Blut, als Inbegriff seiner Lebenshingabe, die in jeder Eucharistie vergegenwärtigt wird, in diesen beiden Sakramenten haben Christen über die Zeiten hinweg Anteil an der Kraft der Auferstehung. Mit Christus auferweckt zu sein, gibt den Mut und die Geduld, täglich sein Kreuz auf sich zu nehmen, wie der lukanische Jesus sagt. Kreuz und Auferstehung, sie umschreiben in ihrem Ineinander das Grundgeheimnis unseres Glaubens. „Deinen Tod, o Herr verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir“, bekennen wir. Dieser Glaube streckt sich nicht nur aus nach der himmlischen Herrlichkeit, er will uns jetzt schon die rettende Nähe des Gekreuzigt-Auferstandenen erfahren lassen. Dieser Glaube ermutigt zu einem Leben der Hingabe, Tag für Tag.

Karl Kern SJ

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„Transsubstantiation“